Erid lauschte. Irgend etwas regte sich in ihm, etwas tief in seinem
Herzen. Sehnsucht. Diese Melodie kam ihm vertraut vor, doch er wusste
nicht, woher. Tränen traten ihm in die Augen und er wünschte sich nichts
sehnlicher, als zum Ursprung der Musik zu gelangen.
Mühsam stapfte er ins Tal hinunter. Er kämpfte sich durch Schneewehen
und Eisfelder, und mit jedem seiner Schritte lockte ihn die Melodie mehr.
Sie drang in seine Seele, durchflutete sein Herz und trieb ihn weiter,
obwohl seine Füße bereits taub waren und seine Augen wund vom eisigen
Wind. Schließlich erreichte er das steinige Flussufer.
Endstation.
Wie eine schäumende Straße lag der Strom vor ihnen, unüberwindbar,
denn das giftig grüne Wasser ließ kein Leben in ihm zu.
„Und was jetzt?", fragte Erid verzweifelt. „Wohin soll ich
gehen?" Erschöpft sank er in den Schnee. Wozu das alles? Warum hatte
er sich das alles angetan, diese Strapazen, diese Entbehrungen, wenn sein
Weg hier im Nirgendwo enden soll?
Und was sollten dann all die Zeichen, die ihn immer weiter getrieben
hatten? Die Stimme Irins, die nur noch als Echo in seiner Erinnerung
wiederhallte, der brennende Dornenbusch, von dem er in einer alten Legende
gehört, aber seinen Sinn vergessen hatte oder der Geist des rätselhaften
Alten und nicht zuletzt die wundersame Melodie. Warum hatten sie ihn hier
her geführt, wenn es hier zu Ende sein sollte?
„Was willst du noch von mir?", schrie er, doch der Sturm riss
die Worte von seinen Lippen.
Da spürte er plötzlich eine feuchte Wärme an seinen steif gefrorenen
Fingern. Hope leckte ihm zaghaft die Hände und blickte winselnd zum
Flussufer hinauf.
„Hope, meine Hoffnung", seufzte Erid. „Es ist vorbei. Unser
Weg ist zu Ende", doch Hopes Winseln wurde immer drängender.
Schließlich nahm sie vorsichtig seinen Ärmel zwischen ihre Fänge und
begann daran zu zerren. Sie gab nicht eher Ruhe, bis Erid sich
aufgerappelt hatte und ihrem Zerren nachging.
Sie führte ihn immer weiter am Ufer entlang, bis zu einer Stelle, wo
harschverkrustete Felsen im Flussbett lagen. Dort war das Wasser flacher
und ruhiger, und Erid schöpfte neuen Mut.
„Hier hinüber?", fragte er die Wölfin. Hope stieß ihn
aufmunternd in die Seite.
Erid schloss die Augen und konzentrierte sich voll auf die Melodie. Er
wollte nichts lieber, als zu ihrer Quelle zu gelangen, dort, davon war er
überzeugt, würde etwas auf ihn warten, was dieser Wanderung einen Sinn
gab. Ein letzter Blick zurück, dann setzte er seinen Fuß auf den ersten
Felsen.
Vorsichtig balancierte er von Stein zu Stein, tastete sich vor, und
mehr als einmal drohte er, den Halt zu verlieren und in die giftige Brühe
zu stürzen, doch zu guter Letzt erreichte er unversehrt das andere Ufer.
Hope bereitete das Hindernis weit weniger Probleme, sie sprang behände
vom Felsen zu Felsen und landete mit einem wohl gezielten Satz zu seinen
Füßen.
Erid schaute sich um. Mittlerweile war es Nacht geworden und das
Mondlicht erhellte vor ihm ein riesiges Schneefeld, ohne irgend einen
Hinweis auf Leben. War das sein Weg? Geradewegs hinein in diese konturlose
weiße Wüste, die ihm weder Schutz noch Nahrung bieten würde? Seine
Vorräte gingen langsam zur Neige, er war erschöpft und durchgefroren bis
ins Mark, doch diese Melodie... sie lockte ihn stärker denn je.
Er kraulte Hope hinter den Ohren und machte sich auf den Weg.
..9.12..
© Heike Schulz