Erid
erwachte am nächsten Morgen noch vor Sonnenaufgang. Das Feuer war
erloschen und er fror.
„Komm,
meine Gute, wir müssen weiter“, sagte er zu Hope und schälte sich aus
seinen Decken. Mit klammen Fingern packte er seine Habseligkeiten zusammen
und hielt dabei kurz inne, als er Samiras Teesäckchen in Händen hielt.
Ein bitterer Schmerz durchdrang seine Seele. Samira. Sie war jetzt bereits
in einer anderen Welt. Zärtlich drückte er den Beutel an sein Gesicht
und sog den würzigen Kräuterduft ein. Ihren Duft. Nein, er würde nicht
weinen. Sie würde es nicht wollen. Mühsam kämpfte er die aufsteigenden
Tränen nieder, band Hope das Bündel auf den Rücken und schlüpfte in
die Schneeschuhe.
„Kommt“,
sagte er zu den Wölfen und stapfte los, ohne sich noch mal umzublicken.
Hatte
er sich je einsamer gefühlt? Selbst damals, als er Irin verloren hatte
und ganz alleine war, war es nicht so schlimm gewesen wie jetzt. Damals
hatte er mit allem abgeschlossen, sich seinem Schicksal gefügt und nur
noch stumpf vor sich hin gelebt. Das Fühlen war nur eine verschwommene
Erinnerung gewesen, etwas, was er weit von sich geschoben hatte, weil es
nur noch Schmerz zu fühlen gab. Dann war Hope gekommen, hatte ihn aus
seiner Trostlosigkeit erweckt und neuen Mut gegeben. Und Samira. Eine
menschliche Seele in all dieser eisigen Düsternis. Wie ein Verdurstender
hatte er ihre Zuversicht aufgesaugt und daraus Kraft geschöpft. Jetzt war
er wieder alleine. War es nicht viel schlimmer, etwas zu verlieren, als es
nie kennen gelernt zu haben? Wäre es nicht besser gewesen, wenn er nie
aus seiner Höhle gekrochen wäre und sich auf diese Reise gemacht hätte?
Dann müsste er jetzt nicht diesen Kummer fühlen. Allmählich zweifelte
er an seiner Mission und wurde mit jedem Schritt wütender auf sich
selber. Wäre er doch nie hierher gekommen!
Die
kleinen Wölfe hatten Mühe, Hope zu folgen. Sie sanken immer wieder in
den Schnee ein und schließlich blieben sie winselnd in einer Schneewehe
stecken.
„Na
kommt schon, ihr Beiden“, knurrte Erid, „ich trage euch ein Stückchen.“
Er
blieb stehen und stopfte umständlich die durchgefrorenen Welpen in seine
Jacke. Dankbar kuschelten sie sich an seine Brust und versuchten, unter
seine Achseln zu kriechen.
„He,
ihr zwei! Das kitzelt! Hört auf damit“, rief Erid in seine Jacke
hinein, doch die Welpen schienen völlig unbeeindruckt. Sie knufften
einander und versuchten, sich gegenseitig in die Ohren zu zwicken. Gegen
seinen Willen musste Erid lächeln. Diese kleinen Wölfe waren einfach
unverwüstlich. Sie waren hungrige Waisen, zitternd vor Kälte und auf
einer Reise, deren Sinn sie nicht verstanden. Und dennoch waren sie guter
Dinge und begnügten sich mit dem, was sie hatten und waren schon
zufrieden, wenn Erid und Hope bei ihnen waren.
Erid
schluckte. Wie töricht er doch war. Was brauchte er denn mehr, als Hope,
seine Hoffnung, und die Kraft seines Herzens? Samira war immer so
zuversichtlich gewesen, war es da nicht Verrat an ihr, wenn er jetzt den
Mut sinken ließ?
„Zeit,
euch beiden Namen zu geben“, sagte er zu den Wölfen. Er überlegte.
„Du da“, er deutete auf den kleinen Rüden, „du sollst ab heute
‚Life’ heißen.“ Er kraulte das Weibchen am Ohr. „Und du heißt
‚Faith’, denn ich glaube an das Leben. Ich will dran glauben, was
bleibt mir sonst anderes übrig?“
Mit
neuem Mut machte er sich wieder auf den Weg.
Er
stapfte immer weiter der Melodie entgegen, währen Life und Faith an
seiner Brust schlummerten und Hope ihm den Weg wies.
Es
war schon fast Mittag, als er es zum ersten Mal bemerkte. Zunächst hatte
er es für eine einfache Tierfährte gehalten, die genau auf seinem Weg
lag, doch je länger er der Spur folgte, desto klarer wurde sie. Am Abend
bestand kein Zweifel mehr. Er folgte einer Menschenspur. Jemand mit
Schneeschuhen ging vor ihm. Jemand, der leichter war als er, vielleicht
ein Kind oder eine Frau. Und dieser Jemand war langsamer als er. Wenn er
in diesem Tempo weiter ginge, würde er sie schon am nächsten Tag
eingeholt haben.
..23.12..
© Heike
Schulz