Über
ihr Gesicht zog sich eine lange Narbe vom Jochbein über den Mund bis zum
Kinn. Ihre Nase stand schief. Angespannt schaute Agnes sie an. Dann
richtete sie sich mühsam an einer Krücke auf und machte einen Schritt
auf Sarah zu. Durch ihren Buckel reichte sie Sarah nur bis zur Schulter.
„Herzlich
Willkommen", sagte sie undeutlich und reichte ihre freie Hand, an der
der kleine Finger abstand.
„Vielen
Dank, für ihre Gastfreundschaft", erwiderte Sarah. Sie drückte die
Hand, die erstaunlich kräftig war.
„Trinken
Sie einen Kaffee mit uns." Agnes setzte sich wieder und blickte
Rachel auffordernd an. Die drehte sich um und holte eine Tasse und eine
Untertasse aus dem Küchenschrank.
Agnes
selbst schenkte Sarah Kaffee ein.
„Ich
habe Aaron immer gebeten, Ihnen zu schreiben, aber er traute sich nicht.
Er wusste nicht, wie er es Ihnen erklären konnte. Kurz vor Kriegsende
wurde mein Mann festgenommen. Er hatte mit einer Sprengladung dafür
gesorgt, dass die Stromaggregate der Soldaten unbrauchbar wurden. Leider
wurde einer der Widerstandskämpfer gefasst und durch seine Unterlagen
fanden sie die anderen. Nachts brachen sie unsere Haustür auf. Mein Mann
flüchtete durch das Fenster. Die Soldaten wollten hinterher, doch ich
stellte mich ihnen in den Weg. Da schlugen sie mich mit Gewehrkolben
nieder und fingen ihn. Anschließend haben sie mich in seiner ..."
Agnes brach ab. Tränen füllten ihre Augen.
„Lass,
Liebes, Sarah muss nicht alles wissen." Rachel umarmte sie.
Aber
Agnes schüttelte ihren Arm ab.
„Sie
haben mich vergewaltigt. Alle der Reihe nach", flüsterte sie.
Tränen rannen ihr die Wangen herab.
Sarah
blickte in ihren Kaffee.
„Agnes
war lange krank, sie konnte weder den Hof noch ihre Kinder versorgen. Meta
holte sie zu sich und kümmerte sich um sie und die Kinder. Allerdings
fehlten die Männer, um die Höfe zu versorgen. Da schrieb Meta an Aaron
und bat ihn heimzukommen", erklärte Rachel.
„Er
war so lieb. Wir waren schon als Kinder Schulkameraden gewesen, jetzt
kamen wir uns näher, und er heiratete mich."
„Obwohl
die Ärzte Agnes verboten, erneut schwanger zu werden, trug sie Hersin
aus."
„Er
wünschte sich so sehr ein eigenes Kind, auch wenn er es nie sagte."
Ein Leuchten ging über Agnes Gesicht. „Leider konnten wir kein zweites
Kind bekommen."
„Agnes
ist bei Hersins Geburt fast gestorben."
„Und
jetzt werden die Folgen der Verletzungen immer schlimmer. Mein Herz ist
nicht mehr gesund und die Ärzte meinen, ich werde nicht mehr lange
leben."
Sarah
schluckte. Warum bloß war sie hierher gekommen?
„Rachel
kümmert sich viel um mich. Sie führt mir den Haushalt. Aaron hat mit den
Höfen genug zu tun."
„Und
ihre Kinder?"
„Die
sind in die Stadt gezogen. Junge Leute können hier keine Arbeit finden.
Hersin geht dort auch in die Schule. Er kommt nur in den Ferien
heim."
„Mich
hat es wieder zurückgetrieben. Hier finde ich Ruhe, um meine Bücher zu
schreiben." Rachel öffnete den Ofen und legte zwei Holzscheite nach.
„Mit vierzehn bin ich als Hausmädchen in die Stadt gezogen. Meine
Herrschaften zogen zu Kriegsbeginn nach Übersee und nahmen mich mit.
Dadurch habe ich das ganz Geschehen hier nicht mitbekommen."
Rachel
sah zum Fenster hinaus. Jetzt hörte Sarah auch das Motorengeräusch.
..22.12..