21. Dezember 2007

 

 

 

 

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 Über ihr Gesicht zog sich eine lange Narbe vom Jochbein über den Mund bis zum Kinn. Ihre Nase stand schief. Angespannt schaute Agnes sie an. Dann richtete sie sich mühsam an einer Krücke auf und machte einen Schritt auf Sarah zu. Durch ihren Buckel reichte sie Sarah nur bis zur Schulter.

„Herzlich Willkommen", sagte sie undeutlich und reichte ihre freie Hand, an der der kleine Finger abstand.

„Vielen Dank, für ihre Gastfreundschaft", erwiderte Sarah. Sie drückte die Hand, die erstaunlich kräftig war.

„Trinken Sie einen Kaffee mit uns." Agnes setzte sich wieder und blickte Rachel auffordernd an. Die drehte sich um und holte eine Tasse und eine Untertasse aus dem Küchenschrank.

Agnes selbst schenkte Sarah Kaffee ein.

„Ich habe Aaron immer gebeten, Ihnen zu schreiben, aber er traute sich nicht. Er wusste nicht, wie er es Ihnen erklären konnte. Kurz vor Kriegsende wurde mein Mann festgenommen. Er hatte mit einer Sprengladung dafür gesorgt, dass die Stromaggregate der Soldaten unbrauchbar wurden. Leider wurde einer der Widerstandskämpfer gefasst und durch seine Unterlagen fanden sie die anderen. Nachts brachen sie unsere Haustür auf. Mein Mann flüchtete durch das Fenster. Die Soldaten wollten hinterher, doch ich stellte mich ihnen in den Weg. Da schlugen sie mich mit Gewehrkolben nieder und fingen ihn. Anschließend haben sie mich in seiner ..." Agnes brach ab. Tränen füllten ihre Augen.

„Lass, Liebes, Sarah muss nicht alles wissen." Rachel umarmte sie.

Aber Agnes schüttelte ihren Arm ab.

„Sie haben mich vergewaltigt. Alle der Reihe nach", flüsterte sie. Tränen rannen ihr die Wangen herab.

Sarah blickte in ihren Kaffee.

„Agnes war lange krank, sie konnte weder den Hof noch ihre Kinder versorgen. Meta holte sie zu sich und kümmerte sich um sie und die Kinder. Allerdings fehlten die Männer, um die Höfe zu versorgen. Da schrieb Meta an Aaron und bat ihn heimzukommen", erklärte Rachel.

„Er war so lieb. Wir waren schon als Kinder Schulkameraden gewesen, jetzt kamen wir uns näher, und er heiratete mich."

„Obwohl die Ärzte Agnes verboten, erneut schwanger zu werden, trug sie Hersin aus."

„Er wünschte sich so sehr ein eigenes Kind, auch wenn er es nie sagte." Ein Leuchten ging über Agnes Gesicht. „Leider konnten wir kein zweites Kind bekommen."

„Agnes ist bei Hersins Geburt fast gestorben."

„Und jetzt werden die Folgen der Verletzungen immer schlimmer. Mein Herz ist nicht mehr gesund und die Ärzte meinen, ich werde nicht mehr lange leben."

Sarah schluckte. Warum bloß war sie hierher gekommen?

„Rachel kümmert sich viel um mich. Sie führt mir den Haushalt. Aaron hat mit den Höfen genug zu tun."

„Und ihre Kinder?"

„Die sind in die Stadt gezogen. Junge Leute können hier keine Arbeit finden. Hersin geht dort auch in die Schule. Er kommt nur in den Ferien heim."

„Mich hat es wieder zurückgetrieben. Hier finde ich Ruhe, um meine Bücher zu schreiben." Rachel öffnete den Ofen und legte zwei Holzscheite nach. „Mit vierzehn bin ich als Hausmädchen in die Stadt gezogen. Meine Herrschaften zogen zu Kriegsbeginn nach Übersee und nahmen mich mit. Dadurch habe ich das ganz Geschehen hier nicht mitbekommen."

Rachel sah zum Fenster hinaus. Jetzt hörte Sarah auch das Motorengeräusch.

..22.12..

© Annette Paul

 

 
 

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  Stand: 22.12.2007