Die
Wölfin hob den Kopf und spitzte die Ohren. Sie gähnte, stellte zuerst
die Vorderläufe auf, streckte ihren Körper, um sich anschließend völlig
aufzurichten. Hope wendete das Haupt und schaute zu Erid hinüber. In
ihren Augen lag ein eigenartiger Ausdruck, undefinierbar, fast leuchtend.
Erids Blick fing sich darin, tauchte tief ein, konnte sich nicht lösen.
Im Zeitlupentempo stand Erid auf. Langsam lief Hope in Richtung der
Schlucht. Wie hypnotisiert folgte er ihr im gleichen Tempo, ohne die Wölfin
aus den Augen zu lassen.
„Wo
willst du jetzt schon wieder hin?“ Samira stellte den Becher ab, beugte
sich irritiert zu den fiependen Welpen und zog sie zu sich heran, um sie
unter ihrem Rock zu wärmen. „Wo willst du hin?“, wiederholte Samira
in einem schärferen Ton.
Erid
gab keine Antwort. Er wusste selbst nicht, wohin Hope ihn führen würde.
Allerdings hatte er das untrügliche Gefühl, dass die Wölfin zielsicher
den Weg zur Schlucht einschlug. In diesem Moment spürte er in seinem
Innern so etwas wie Vertrauen. Vertrauen, das er bereits seit Jahren nicht
mehr besaß. Erid schüttelte verständnislos den Kopf und stapfte hinter
Hope her.
Die
Melodie wurde stärker, intensiver, eindringlicher, je näher er an den
Abgrund kam. Was wollte Hope ihm zeigen?
„Hier
geht es nicht mehr weiter.“ Erid blieb stehen. Die Wölfin gesellte sich
an Erids Seite und schubste ihn weiter nach rechts. „Willst du mich in
die Schlucht stürzen?“, fragte Erid empört und stemmte die Beine fest
in den schlüpfrigen Boden. Ein einziger falscher Schritt und er stürzte
unweigerlich in die Tiefe. Doch Hope gab nicht nach, stieß Erid mit der
Schnauze an, schob ihn Stücken für Stückchen seitlich vorwärts.
„Was
willst du mir zeigen?“ Inzwischen verblüffte Erid die Hartnäckigkeit
der Wölfin. Beinahe wäre er über einen spitzen, herausstehenden
Felsbrocken gestolpert. Im letzten Moment konnte er einen Fall in die
Tiefe verhindern, indem er sich rücklings fallen ließ und in den Boden
griff.
„Da
ging gerade noch einmal gut.“ Er rappelte sich hoch. Hope lugte hinter
dem Felsenvorsprung hervor und gab merkwürdig gurrende Laute von sich.
„Was ist?“ Wieder begannen die Augen der Wölfin zu leuchten, lockte
Erid mit ihrem Blick zu sich heran. Erneut konnte er dem Drang nicht
widerstehen, ihr zu folgen. Sie stieß die Schnauze in den Schnee und
begann, mit einem Vorderlauf zu kratzen.
„Willst
du den Stein ausgraben?“ Erid beobachtete sie. „Was soll das? Es wird
uns nicht weiterhelfen.“ Plötzlich leuchte etwas im Erdreich in einem
satten blauen Ton auf. Erid beugte sich zu der Wölfin hinunter, griff in
das Loch, entfernte mit beiden Händen das aufgewühlte Erdreich und beförderte
... einen blauen Stern hervor.
„Mein
Gott“, flüsterte er andächtig, „das Gegenstück zum Stern der
Hoffnung – der Stern des Vertrauens.“ Vorsichtig löste er die
Erdkrumen und polierte die Oberfläche blank. Dann hielt er ihn in die Höhe,
sodass sich das Licht darin spiegeln konnte. Im gleichen Moment wurde die
Melodie, die offenbar hinter dem Wald ihren Ursprung hatte, lauter und
intensiver, verfing sich in der Schlucht und hallte von allen Seiten zurück.
„Wie in einer Kathedrale“, murmelte Erid ergriffen und erinnerte sich
an seine Kindheit, als er mit den Eltern in der Kirche dem Chor lauschte
oder dem Orgelspiel zuhörte.
„Vertrauen.“
Erid blieb benommen am Rand der Schlucht stehen. Hatte er vorhin nicht so
etwas wie Vertrauen gespürt, als er der Wölfin blind gefolgt war? Ein
Gefühl, in Sicherheit zu sein? Keine Angst mehr haben zu müssen?
Das
rote Licht hinter dem Wald spiegelte sich im Glas des blauen Sternes,
brach und strahlte auf das Erdreich unter Erid, weiter tiefer in die
Schlucht hinein. Erid folgte dem Strahl mit den Augen, traute sich aber
nicht, sich weiter vorzubeugen. Vorsichtig kniete er nieder, dann legte er
sich sicherheitshalber auf den Bauch, robbte ein Stück vorwärts und
lugte in die Schlucht.
„Ich
werde verrückt!“, stieß er aus. Was hatte Samira vorhin gesagt?
‚Jetzt bräuchten wir ein Wunder.’ Er, Erid hatte das Wunder gefunden.
Eine Stickleiter aus festem Seil reichte bis zum Ende der steilen Felsen,
die vor dem Wald mündeten. Sie brauchten sie nur noch betreten, um zum
Licht und damit zur Melodie zu gelangen.
„Doch
was ist mir dir?“, fiel ihm plötzlich Hope ein. „Eine Wölfin kann
nicht über eine Leiter steigen.“ Hope legte den Kopf schräg, winselte
ein paar Mal und lief zurück zum Lagerfeuer. „Wir müssen Samira um Rat
fragen“, sagte Erid seufzend, rappelte sich hoch und folgte der Wölfin.
..19.12..
©
Monique Lhoir