Sarahs
Rücken schmerzte vom unbequemen Sitzen auf dem Bett. Außerdem hatte das
Lesen bei dem schwachen Licht sie angestrengt. Sie legte das Lesezeichen
zwischen die Seiten, stand auf und ging zum Fenster. Am liebsten würde
sie sich draußen in der Umgebung des Gasthauses ein wenig umsehen, in
Aarons Heimat. Weiter westlich musste das Meer sein und Metas Häuschen.
Die alte Meta! Über hundert Jahre musste sie jetzt alt sein. Sie würde
sie ja treffen in den nächsten Tagen. Von den Wäldern her hörte sie
immer noch die Wölfe heulen. Nein, sie wollte das Haus nicht mehr
verlassen, war ja froh, dass sie in Sicherheit war. Schließlich war sie
in dieser unwirtlichen Gegend ein Fremdkörper, das hatte sie auf der
Schlittenfahrt zur Genüge erlebt. Außerdem hatte es zu schneien
begonnen. So begnügte sie sich mit dem kleinen Zimmer.
Beim
Auf- und Abgehen dachte sie über all die Geschehnisse der vergangenen
zwei Wochen nach. War es ein Zufall, dass ihr beim Weihnachtseinkauf in
der Ladenzeile gerade dieser wunderbare Schatz in die Hände gefallen war?
Sie streichelte das Buch, das sie noch immer in den Händen hielt. Hatte
sie denn geahnt, dass es die Geschichte von Aaron enthielt? Und dass sie
darin den Aaron vor ihrer gemeinsamen Zeit kennen lernen sollte? Seine
Eltern Hersin und Anna hatten ihn so früh verlassen. Den Drang nach
Abenteuern hatte er von seinem Vater und die Schönheit von seiner Mutter
geerbt. Nach deren Tod hatte Meta ihn großgezogen und darum gekämpft,
dass er im Dorf blieb, wollte Unheil von ihm abwenden, die Gute. Später
hatte Rachel in Aarons Leben eine bedeutende Rolle gespielt und nach
vielen Jahren seine Geschichte aufgeschrieben. Rachel war sogar
erfolgreich mit diesem Buch. Schließlich war es auch kein Zufall, dass
die Autorin ihre Spuren verfolgt und sie in der Buchhandlung beobachtet
hatte. Und nun waren sie sogar gemeinsam hierher gereist in Metas, Aarons
und Rachels Heimat, wo kurz vor ihrer Ankunft etwas Schreckliches passiert
sein musste.
Sie
machte sich bettfertig und kuschelte sich unter die Decke. Dann las sie
weiter Aarons Geschichte. Manches wusste sie ja schon von Aaron oder hatte
es sich selbst ausgemalt. Meta hatte sich gegen seine Wanderlust nicht
durchsetzen können. Bevor er ging, hatte er ihr versprochen, gut auf sich
aufzupassen und nicht so leichtsinnig zu sein wie sein Vater, der seinen
Mut mit dem Leben bezahlt hatte. Das machte Sarah Hoffnung, dass er
tatsächlich noch lebte und es ein Wiedersehen geben würde. Ihr Herz
klopfte bei dem Gedanken. Was war mit Rachel gewesen bis zu dem Zeitpunkt,
als die ihn während dieser verhängnisvollen Bergtour aus den Augen
verloren hatte? War sie nur eine gute Freundin oder war da mehr gewesen?
Jedenfalls war Rachel wohl die Letzte, die ihn gesehen hatte. Vor
Müdigkeit fielen ihr fast die Augen zu. Sie legte das Buch unter ihr
Kopfkissen und schlief ein.
Als
sie am nächsten Morgen die Tür zum Gastraum öffnete, hörte sie Vilde
leise reden.
„Das
schöne kleine Häuschen. Irgendwann musste das ja passieren. Immer um
diese Zeit vor Weihnachten zündete sie beim Dunkelwerden eine Kerze an.
Sie ging ja kaum noch nach draußen. So war das Licht in ihrem Fenster wie
ein Gruß. Alle im Dorf hatten ihre Freude daran. Er gehörte einfach dazu
in dieser dunklen Jahreszeit. Alle Jahre wieder. Man hat sie nicht
gefunden, sagst du?"
„Stundenlang
haben Thoren und die anderen Männer nach ihr gesucht, bis das
Schneetreiben zu stark wurde. Die Spuren sind verwischt. Jetzt können wir
nur noch auf ein Wunder hoffen." Das war Rachels Stimme.
„In
der letzten Zeit soll sie ein wenig verwirrt gewesen sein, sonst hätte
sie sich doch Hilfe geholt, anstatt wegzulaufen. Ach, wie
schrecklich!" Vilde hatte Tränen in den Augen.
„Von
Meta redet ihr, um Gottes Willen. Ihr Häuschen abgebrannt und sie ist
verschwunden, nicht wahr?", fragte Sarah und setzte sich zu den
beiden Frauen an den Tisch, wo Vilde ihr schon das Frühstück bereitet
hatte, Kaffee, Brot und geräucherter Fisch, der nach der erholsamen
Nachtruhe gar nicht mehr übel, sondern appetitlich roch.
„Ach,
Sarah, verzeih mir, dass ich dich gestern Abend in Ungewissheit hier
zurückgelassen habe, aber du hättest wirklich nichts ausrichten können.
So hattest du wenigstens eine erholsame Nacht, so hoffe ich doch,
oder?"
„Danke,
Rachel, war schon okay. Wenn ich gewusst hätte, dass Ihr von Meta redet,
hätte ich sicherlich nicht so gut geschlafen. So habe ich weiter in
deinem Buch gelesen und bin dann vor Müdigkeit regelrecht in den Schlaf
gefallen."
„Siehst
du? Aber nun frühstücke mal in aller Ruhe. Dann sehen wir weiter."
..15.12..
© Renate Hupfeld