Sarah
betrat das behaglich warme Zimmer, in das Vilde sie führte. Ihre Tasche
ließ sie einfach auf den Ohrensessel fallen, der schräg neben dem
Schrank stand. Ihr fehlte die Lust, die Sachen auszupacken.
Wind
heulte um das Haus. Sarah schaute aus dem Fenster. Die verschneiten
Wälder erschienen in der Dunkelheit wie eine undurchdringliche Wand. Im
Schein der Lampe, die vor dem Gasthaus brannte, schwebten glitzernde
Kristalle in der frostklaren Luft. Der Schlitten war verschwunden. Nur die
gleichmäßigen Spuren der Kufen im Schnee zeugten von seiner Anwesenheit.
Was
für ein eigenartiger, trostloser Ort. Und welches Geheimnis hütete er?
Sarah
kramte in der Tasche nach dem Buch über Meta. Vor wenigen Tagen hatte
Rachel ihr gesagt, dass sie verstehen würde, wenn sie ihre Geschichte
gelesen hätte. Sie setzte sich auf das Bett, stopfte sich ein Kissen in
den Rücken und schlug die gekennzeichnete Seite auf.
Die
Nacht war lang. Und morgen würde Rachel ihr alles genau erklären.
Die
Bewohner trugen Hersins und Annas Leichen hinunter ins Dorf. Ab und zu
durchbrach Schluchzen die Stille. Die Toten wurden im Wohnzimmer ihres
Hauses aufgebahrt. Nebeneinander, in Eintracht. So wie sie gelebt hatten.
Metas
Herz war voller Trauer, als sie in die entspannten Gesichter schaute. Aber
sie konnte nicht mehr weinen. Zu viele geliebte Menschen waren gegangen.
„Ruhet
in Frieden. Ich kümmere mich um Aaron." Sie schlurfte in die Küche.
Aaron hockte auf einem Stuhl. In der Hand eine Tasse Milch, die eine
Nachbarin für ihn aufgewärmt hatte. Meta bat sie, eine Tasche für ihn
zu packen.
„Aaron,
verabschiede dich von deinen Eltern." Sie führte ihn an die Bahre
und blieb dicht hinter ihm stehen, die Hände auf seine Schultern gelegt.
„Werden
sie jetzt nie wieder wach?", fragte er.
„Nein.
Aber sie sind dennoch immer bei dir und beschützen dich. Was du auch
tust."
„Dann
ist es ja gut." Vertrauensvoll griff er nach ihrer Hand.
„Komm,
du wohnst jetzt bei mir." Die Tasche in der einen und Aaron an der
anderen Hand, verließ Meta mit schweren Schritten das Haus.
Sie
brachte ihn in Freds und Pauls ehemaligem Zimmer unter. Obwohl sie sich
freute, dass ihr Heim wieder mit Leben gefüllt wurde, wusste sie, wie
schwer es werden würde. Für Aaron und für sie selbst. Sie war längst
zu alt, um ein Kind groß zu ziehen. Doch wer fragte danach?
„Aaron
und ich sind die letzten, die übrig sind. Ich muss dafür sorgen, das es
weitergeht."
Aaron
wuchs schnell heran. Er trug das wilde Erbe seines Vaters in sich und
kletterte auf die höchsten Gipfel. Meta konnte die bangen Stunden nicht
mehr zählen, die sie damit verbrachte, auf seine Rückkehr zu warten.
Eines
Tages kam er mit einer überraschenden Nachricht.
„Diese
Gegend fordert mich nicht mehr. Ich muss weg, Tante. Dorthin, wo die Berge
höher sind und steiler. Nächste Woche geht es los."
„Aber
Aaron. Du kannst doch nicht alleine…"
„Keine
Sorge. Ich geh nicht allein. Rachel begleitet mich."
„Rachel?
Meinst du die kleine Schwarzbauer, diese freche Göre? Hätte ich mir
denken können, dass die dich dazu anstiftet, deine Heimat - mich - zu
verlassen." Meta schaute mit zusammengekniffenen Augen zu ihm auf.
Aber Aaron lachte nur.
„Gib
ihr nicht die Schuld. Das war allein meine Entscheidung." Er strich
ihr einmal über das graue Haar. „Mach dir keine Sorgen, ich komme
zurück."
„Nein,
Aaron, bitte bleib!", flehte sie. Doch er hörte nicht zu. Meta sah
seiner muskulösen Gestalt nach. Er wusste es nicht. Und sie würde es ihm
nicht sagen.
Kein
Mann, der jemals das Dorf verließ, kehrte zurück. Niemals.
Das
war so, seit sie sich erinnern konnte. Sie musste einen Weg finden, ihn zu
halten.
..14.12..
©
Marion Pletzer