Erid
trottete hinter Samira, die mit gleichmäßigen Schritten in der Spur der
Wölfin ging. Was war nur aus ihm geworden? Ein Sonnenanbeter war er
gewesen. Konnte er sich an ihrem Licht und ihrer Wärme gar nicht mehr
erfreuen? Wie ein Alptraum lag die vergangene Nacht auf seiner Seele.
Das
Tollhaus mit den fellbedeckten Ungeheuern, der brennende Busch und das
Wolfsrudel verfolgten ihn in seinen Gedanken.
Und
der Schicksalsbericht von Samira wirkte nach. Sein eigenes Desaster war
wieder gegenwärtig. Die Flucht aus der zerstörten Stadt zusammen mit
Irin, der Schrei der Geliebten, nachdem er sie in den Klauen der kleinen
Monster zurückgelassen hatte. Die Totenstille danach. Mozarts Requiem
wollte sich breit machen in seinem Kopf. Er wehrte sich dagegen. Wer sagte
denn, dass Irin tot war?
Wie
ein Liebeslied ertönte plötzlich über ihm die zarte Melodie der
Sehnsucht. Er schaute hoch. Der Himmel spannte sich wie eine blaue Glocke
über die ganze Welt. Irgendwo war Irin. Die Jahre hatten sie nicht
verschluckt. Sie war intelligent und stark. Vielleicht konnte sie ihre
Feinde überlisten. Vielleicht hörte sie in diesem Moment, genau wie er,
die Melodie der Sehnsucht.
Er
fühlte in seiner Hosentasche das Lederband, an dem die Wölfin den roten
Hoffnungsstern getragen hatte. Hope, die ihm mit ihrer Zuneigung nach
langer Zeit wieder ein Gefühl von Leben geschenkt hatte. Hätte sie ohne
ihn die schwere Verletzung überlebt? Hätte er ohne sie den Mut gehabt,
jemals den Erdbunker zu verlassen? Auch ihretwegen durfte er nicht
aufgeben, musste weiter, immer weiter.
Und
die alte Frau vor ihm? Ihr Rücken war zwar gebeugt, aber ihre Schritte
waren kräftig. Woher nahm sie diese Kraft? Nachdem er ihr Schicksal
kannte, war ihm klar, dass es einerseits das Gleiche war, das ihn nach
vorne trieb: die Liebe. Auch Samira hatte die Hoffnung, einen geliebten
Menschen wieder zu sehen. Auch sie hatte den Mut gehabt, ihre sichere
kleine Behausung zu verlassen. Andererseits hatte sie Fähigkeiten, die
ihm unerklärlich waren. Sie sah mehr als er. Lag es nur an der Weisheit
des Alters? Was hatte sie im Inneren des Hoffnungssterns entdeckt, das er
nicht erkannte? Was hatte sie mit dem geheimnisvollen Hinweis auf ein
Gegenstück zum Hoffnungsstern gemeint? Warum war sie gestern nicht der
Versuchung erlegen, das Haus zu betreten? Was schließlich gab Samira die
unerschütterliche Gewissheit, dass die Wölfin den richtigen Weg fand?
Der
Pfad durch die weite Ebene führte in den Wald, der sich über der unteren
Hälfte des Bergkegels ausbreitete. Wie ein versteinerter Rosengarten
lagen die Felsen rotgolden über den Bäumen.
Erid
nahm sich vor, Holz zu sammeln, damit am Abend in einer geschützten Felshöhle
ein herrliches Feuer prasseln könnte. Drei Freunde würden beisammen
sitzen, in die Flammen schauen, Kräutertee zubereiten, Nüsse und andere
Essvorräte auspacken und leise Gespräche führen. Die ganze Nacht lang hätten
sie es schön warm. Er zog die Lederschnur aus der Tasche und wickelte sie
auseinander. Mit ihr würde er das Bündel Holz zusammenbinden, damit er
es besser den Berg hinauf tragen könnte.
Ihm
fiel auf, dass ihm das Gehen gar nicht mehr so schwer fiel. Ohne es zu
bemerken, hatte er Samiras Schrittrhythmus übernommen.
..13.12..
©
Renate
Hupfeld