Sarah
schrie laut auf und klammerte sich an Rachel. „Mutter, kannst du die da
nicht mal endlich zur Ruhe bringen? Mit ihrer Angst macht sie mir die
Gäule scheu." Er funkelte Sarah wütend an, drehte sich um und ging
zu den Pferden. Sarah hörte, wie er beruhigend auf sie einredete.
„Steig
aus!", befahl Rachel und kletterte aus dem Gefährt.
„Hier?"
Sarah wickelte sich enger in die Felle ein, sodass kaum ihre Nasenspitze
hervorlugte.
Rachel
riss ihr die Felle weg. „Du siehst doch, dass Thoren den Schlitten
wieder frei machen muss, wenn wir weiter wollen. Übrigens, in ganz
Norwegen gibt es zur Zeit nicht mehr als zwanzig Wölfe, wobei die
Regierung dieses Jahr nur fünf zum Abschuss freigegeben hat. Drei davon
wurden bereits erledigt."
„Und
das Heulen und die vielen gelben Lichter?" Sarah kletterte vorsichtig
vom Schlitten, nicht ohne sich nach allen Seiten umzusehen.
„Welche
Lichter? Die aus dem nächsten Dorf?" Rachel lachte laut. „Und das
Heulen kommt von den Bergen, je nachdem wie der Wind gerade steht."
Sie beobachtete Sarah, die sich ängstlich am Schlitten festhielt, als
wolle sie jeden Moment wieder aufspringen. „Du kannst mir glauben, ich
kenne mich in der Gegend aus. Wenn Thoren den Schlitten wieder frei
bekommen hat, sind wir in zehn Minuten in Frihetsli."
„Aha."
Mehr brachte Sarah nicht heraus. Sie schämte sich, in ihrer Unwissenheit
eine derartige Hysterie verbreitet zu haben. Im Mondlicht, das sich im
Schnee spiegelte, erkannte sie, dass Thoren offenbar die Pferde
ausgespannt hatte und nun den Schlitten ein Stück zurückzog. „Das habe
ich nicht gewusst", fügte sie kleinlaut hinzu.
„Sei
froh, dass wir Winter haben", sagte Rachel leise lachend. „So
kommen wir wenigsten mit den Schlitten über die Berge. Im Frühjahr oder
Herbst musst du an die dreißig Kilometer durch die oberen Dividalen und
durch das Anjavassdalen-Tal durch morastiges Gebiet wandern, ehe du nach
Frihetsli kommst. Das kann ewig dauern."
„Ich
ahnte nicht, wie abgelegen Meta wohnt." Sarah blickte zu Boden in den
glitzernden Schnee, dann hinauf zu den Bergen, über die der Mond stand.
„Eine herrliche Landschaft", sagte sie mehr zu sich selbst als zu
Rachel. „Wie Weihnachten. Hier könnte der Weihnachtsmann mit seinen
Rentieren wohnen, wenn nicht ..."
„Ja,
aber auch sehr hart. Komm, wir können weiter." Sie stieß Sarah
unsanft an.
Rachel
hatte nicht gelogen. Nach ungefähr zehn Minuten erblickte Sarah die
ersten Lichter eines Ortes, die rasch näher kamen.
„Frihetsli",
erklärte Rachel. Thoren hielt vor einem Holzhaus, das dunkelrot
angestrichen war und Sarah wie ein Häuschen einer elektrischen Eisenbahn
anmutete. „Hier kannst du übernachten", erklärte Rachel in
bestimmten Ton.
„Warum
nicht bei dir?", erwiderte Sarah. Sie fühlte sich plötzlich allein
gelassen.
„Erstens
muss ich sehen, ob meine Hütte noch steht, zweitens ist sie weit
außerhalb des Dorfes, drittens ungeheizt und viertens ist dies das
einzige Gasthaus."
„Das
stört mich nicht", erklärte Sarah ungerührt und blieb im Schlitten
sitzen.
„Oh
doch. Du bist mit unserem Klima nicht vertraut. Im höchsten Norden
Norwegens sind die Nächte im Winter eisig." Sie half Sarah aus dem
Schlitten, während Thoren die Pferde versorgte.
Als
sie die kleine Stube des Holzhauses betraten kam Sarah ein eigenartiger
Geruch entgegen. Sie rümpfte die Nase. „Saiblinge", erklärte
Rachel. „Die Angler holen sie hier aus dem See. Die bekommst du morgen
zum Frühstück." Sie lachte laut.
Eine
schlanke Frau mit einem dicken, geflochtenen grauen Haarzopf kam ihnen
entgegen. „Rachel!", rief sie und hielt sich die Hand vor dem Mund.
„Du bist zurück?"
„Vilde."
Rachel umarmte die ältere Frau. „Ich bin zurück. Und das ist Sarah.
Ich habe sie aus Deutschland mitgebracht. Sie will ..." Rachel
wechselte in eine Sprache, die Sarah nicht mehr verstand. Vilde schlug die
Hand vors Gesicht, während sie auf Rachel einredete und dabei Sarah immer
wieder von der Seite ansah.
„Was
ist denn los?", wollte Sarah ungeduldig wissen, als der Redeschwall
der alten Frau kein Ende zu nehmen schien und beide Frauen wie wild
gestikulierten, ehe sich Rachel auf eine Holzbank niederließ, ihr Gesicht
in den Händen verbarg und zu weinen begann.
„Ein
Unglück", sagte sie leise. „Ein schreckliches Unglück. Wieder und
immer wieder ereilt uns das gleiche Schicksal."
„Was
für ein Schicksal?" Sarah setzte sich zu Rachel auf die Bank und
zwang die Frau, ihre Hände vom Gesicht zu nehmen. „Welches
Unglück?", fragte sie erneut. „Sprich doch endlich mit mir. Was
verheimlichst du mir die ganze Zeit? Was hast du in deinem Buch über Meta
nicht erwähnt? Was ist mit Aaron? Warum sagst du mir nicht die Wahrheit?
Ich will wissen, was passiert ist. Deshalb bin ich hier – in diesem
gottverlassenem Nest." Beinahe hätte sie vor Verachtung auf den
Boden gespuckt.
Rachel
schluchzte noch einmal kräftig auf, schnäuzte wie ein Bauer in ein Tuch
und nahm anschließend Sarahs Hände. „Morgen", sagte sie leise,
„morgen werde ich dir mehr von Meta erzählen. Heute musst du schlafen
und ich dringend zu meiner Hütte. Vilde wird gut auf dich
aufpassen."
..13.12..
©
Monique Lhoir