12. Dezember 2007

 

 

 

 

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Sarah schrie laut auf und klammerte sich an Rachel. „Mutter, kannst du die da nicht mal endlich zur Ruhe bringen? Mit ihrer Angst macht sie mir die Gäule scheu." Er funkelte Sarah wütend an, drehte sich um und ging zu den Pferden. Sarah hörte, wie er beruhigend auf sie einredete.

„Steig aus!", befahl Rachel und kletterte aus dem Gefährt.

„Hier?" Sarah wickelte sich enger in die Felle ein, sodass kaum ihre Nasenspitze hervorlugte.

Rachel riss ihr die Felle weg. „Du siehst doch, dass Thoren den Schlitten wieder frei machen muss, wenn wir weiter wollen. Übrigens, in ganz Norwegen gibt es zur Zeit nicht mehr als zwanzig Wölfe, wobei die Regierung dieses Jahr nur fünf zum Abschuss freigegeben hat. Drei davon wurden bereits erledigt."

„Und das Heulen und die vielen gelben Lichter?" Sarah kletterte vorsichtig vom Schlitten, nicht ohne sich nach allen Seiten umzusehen.

„Welche Lichter? Die aus dem nächsten Dorf?" Rachel lachte laut. „Und das Heulen kommt von den Bergen, je nachdem wie der Wind gerade steht." Sie beobachtete Sarah, die sich ängstlich am Schlitten festhielt, als wolle sie jeden Moment wieder aufspringen. „Du kannst mir glauben, ich kenne mich in der Gegend aus. Wenn Thoren den Schlitten wieder frei bekommen hat, sind wir in zehn Minuten in Frihetsli."

„Aha." Mehr brachte Sarah nicht heraus. Sie schämte sich, in ihrer Unwissenheit eine derartige Hysterie verbreitet zu haben. Im Mondlicht, das sich im Schnee spiegelte, erkannte sie, dass Thoren offenbar die Pferde ausgespannt hatte und nun den Schlitten ein Stück zurückzog. „Das habe ich nicht gewusst", fügte sie kleinlaut hinzu.

„Sei froh, dass wir Winter haben", sagte Rachel leise lachend. „So kommen wir wenigsten mit den Schlitten über die Berge. Im Frühjahr oder Herbst musst du an die dreißig Kilometer durch die oberen Dividalen und durch das Anjavassdalen-Tal durch morastiges Gebiet wandern, ehe du nach Frihetsli kommst. Das kann ewig dauern."

„Ich ahnte nicht, wie abgelegen Meta wohnt." Sarah blickte zu Boden in den glitzernden Schnee, dann hinauf zu den Bergen, über die der Mond stand. „Eine herrliche Landschaft", sagte sie mehr zu sich selbst als zu Rachel. „Wie Weihnachten. Hier könnte der Weihnachtsmann mit seinen Rentieren wohnen, wenn nicht ..."

„Ja, aber auch sehr hart. Komm, wir können weiter." Sie stieß Sarah unsanft an.

Rachel hatte nicht gelogen. Nach ungefähr zehn Minuten erblickte Sarah die ersten Lichter eines Ortes, die rasch näher kamen.

„Frihetsli", erklärte Rachel. Thoren hielt vor einem Holzhaus, das dunkelrot angestrichen war und Sarah wie ein Häuschen einer elektrischen Eisenbahn anmutete. „Hier kannst du übernachten", erklärte Rachel in bestimmten Ton.

„Warum nicht bei dir?", erwiderte Sarah. Sie fühlte sich plötzlich allein gelassen.

„Erstens muss ich sehen, ob meine Hütte noch steht, zweitens ist sie weit außerhalb des Dorfes, drittens ungeheizt und viertens ist dies das einzige Gasthaus."

„Das stört mich nicht", erklärte Sarah ungerührt und blieb im Schlitten sitzen.

„Oh doch. Du bist mit unserem Klima nicht vertraut. Im höchsten Norden Norwegens sind die Nächte im Winter eisig." Sie half Sarah aus dem Schlitten, während Thoren die Pferde versorgte.

Als sie die kleine Stube des Holzhauses betraten kam Sarah ein eigenartiger Geruch entgegen. Sie rümpfte die Nase. „Saiblinge", erklärte Rachel. „Die Angler holen sie hier aus dem See. Die bekommst du morgen zum Frühstück." Sie lachte laut.

Eine schlanke Frau mit einem dicken, geflochtenen grauen Haarzopf kam ihnen entgegen. „Rachel!", rief sie und hielt sich die Hand vor dem Mund. „Du bist zurück?"

„Vilde." Rachel umarmte die ältere Frau. „Ich bin zurück. Und das ist Sarah. Ich habe sie aus Deutschland mitgebracht. Sie will ..." Rachel wechselte in eine Sprache, die Sarah nicht mehr verstand. Vilde schlug die Hand vors Gesicht, während sie auf Rachel einredete und dabei Sarah immer wieder von der Seite ansah.

„Was ist denn los?", wollte Sarah ungeduldig wissen, als der Redeschwall der alten Frau kein Ende zu nehmen schien und beide Frauen wie wild gestikulierten, ehe sich Rachel auf eine Holzbank niederließ, ihr Gesicht in den Händen verbarg und zu weinen begann.

„Ein Unglück", sagte sie leise. „Ein schreckliches Unglück. Wieder und immer wieder ereilt uns das gleiche Schicksal."

„Was für ein Schicksal?" Sarah setzte sich zu Rachel auf die Bank und zwang die Frau, ihre Hände vom Gesicht zu nehmen. „Welches Unglück?", fragte sie erneut. „Sprich doch endlich mit mir. Was verheimlichst du mir die ganze Zeit? Was hast du in deinem Buch über Meta nicht erwähnt? Was ist mit Aaron? Warum sagst du mir nicht die Wahrheit? Ich will wissen, was passiert ist. Deshalb bin ich hier – in diesem gottverlassenem Nest." Beinahe hätte sie vor Verachtung auf den Boden gespuckt.

Rachel schluchzte noch einmal kräftig auf, schnäuzte wie ein Bauer in ein Tuch und nahm anschließend Sarahs Hände. „Morgen", sagte sie leise, „morgen werde ich dir mehr von Meta erzählen. Heute musst du schlafen und ich dringend zu meiner Hütte. Vilde wird gut auf dich aufpassen."

 ..13.12..

© Monique Lhoir

 

 
 

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  Stand: 13.12.2007