11. Dezember 2006

 

 

 

 

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Samira blickte auf. Erid erkannte an ihrem Gesichtsausdruck, dass es sie viel Überwindung kostete, ihm zu antworten. Sie warf den letzten Zweig ins Feuer, den sie auf ihrem langen Weg gesammelt hatten. Dann räusperte sie sich. Ungeduld machte sich in Erid breit, zur Beruhigung streichelte er Hopes Kopf. Endlich blickte Samira auf. Gespannt achtete er auf ihre Lippen.

"Das ist meine Enkelin." Ihre Augen waren mit Tränen gefüllt.

Erid schluckte. "Deine Enkelin?" Sie nickte.

"Aber …" Er wurde durch eine Handbewegung von Samira gebeten nicht weiter zu sprechen.

"In den Städten herrschten Aufstände, kaum einer hatte Arbeit, in den Rinnsteinen stapelten sich Unräte, die Industrie hatte das Wasser verseucht. Die Menschen wurden krank, unzählige starben entstellt an einer seltsamen Krankheit. Mein Mann, unsere Tochter, ihr Ehemann und Ariadne, meine Enkeltochter - gemeinsam fohlen wir aus der Stadt. Gutgläubig erhofften wir in den Wäldern Zuflucht zu finden und verschont zu bleiben. Wir gruben uns Erdlöcher, lebten darin. Doch mit der Zeit kamen sie, die Gestalten. Verseuchte Menschen. Aus Angst uns anzustecken, griffen wir eilig was wir tragen konnten. Den Rest ließen wir zurück. Somit verloren wir von Mal zu Mal mehr unserer Habe." Sie trank einen Schluck Tee. Erid gab keinen Mucks von sich, mechanisch streichelte er weithin Hope. Seine Muskeln waren angespannt, Erinnerungen rissen in ihm auf. Gedanken an seine eigene Flucht, an den schmerzlichen Verlust von Irin, seiner Liebe. Bilder stiegen vor seinem inneren Auge auf. Er versuchte sie durch starkes Kopfschütteln zu verscheuchen. Samira achtete nicht auf ihn, schaute ins Feuer.

"Wir kamen an einen Fluss. Grünbräunliches Wasser strömte zu unseren Füßen. Die Pflanzen am Ufer waren abgestorben, kein Leben zu finden. Tote Fische trieben Stromabwärts. Uns waren die Lebensmittel ausgegangen, wir hatten kein frisches Wasser. Der Winter stand vor der Tür. ‘Wir müssen über den Fluss’, sagte meine Tochter und suchte nach einer Stelle, wo wir hinüber gehen konnten. Wir stießen auf einen quer gelegten Baumstamm, der geeignete Weg. Ich ging mit Ariadne voraus. Als wir das gegenüberliegende Ufer erreicht hatten folgte der Rest der Familie. Sie standen auf dem Stamm, hielten sich an den Händen. Auf einmal stürmten Gestalten aus dem Nichts. Vermummt, bis auf ihre Augen, aus denen gelbe Flüssigkeit tropfte. Sie gaben gutturale Töne von sich. Ich schrie, doch es war zu spät. Ich sah wie meine Tochter mir zuwinkte wegzulaufen, dann ging sie, gemeinsam mit Vater und Ehemann im verseuchten Fluss unter. Die zum Aussterben verdammten Menschen hatten den Baumstamm mit Tritten ins Wanken gebracht." Samira hielt sich die Hände vors Gesicht, weinte still.

"Und deine Enkelin?"

Sie zuckte mit den Schultern. "Ich habe sie danach nicht mehr gesehen."

Erid kauerte sich neben die alte Frau, berührte sie sanft an der Schulter. "Es tut mir leid", flüsterte er.

Sie blickte auf. "Du hast doch auch einen Menschen verloren, oder?" Erid zuckte zusammen. "Kannst du in mein Innerstes sehen?"

"Nicht in deins, doch ins Innere des Hoffnungssterns. Ich sagte dir doch, dort bewegt sich etwas in ihm. Es ist eine Frau, wunderschön, in bunten Kleidern gewickelt. Ihre Arme sind ausgestreckt, sie versucht etwas zu …"
"Hör auf!", schrie Erid, sprang auf und hielt sich die Ohren zu. Er entfernte sich ein Stück vom Lager. Hope war sofort an seiner Seite. Erid ließ sich in den Schnee fallen, trommelte mit den Fäusten darauf, schrie: "Ich wollte sie nicht zurück lassen. Vor Schreck erstarrt stand ich da. Nach Hilfe schreiend streckte sie ihre Arme nach mir aus. Irin lag am Boden, an ihren Beiden zogen die Gestalten sie immer weiter von mir weg. Dann hörte ich sie schreien: ‘Lauf, Erid, lauf und gib deine Hoffnung niemals auf!’ Als wäre es ein Befehl drehte ich mich weg und rannte davon ohne zurückzublicken. Ich war schon weit entfernt, da vernahm ich einen letzten herzzerreißenden Schrei. Dann wurde es totenstill. Doch ich blieb nicht stehen, lief bis die Lunge schmerzte, meine Beine mich nicht mehr trugen. Ich ließ mich auf einem Felsen nieder. Tage später fand ich die Höhle, in der ich drei Jahre lebte. Mit Furcht, bei jedem meiner Schritte, dass sie mich finden würden." Er sank erschöpft zusammen. Hope legte sich über seinen Körper und spendete ihm Wärme.

"Keine Angst, Erid, du wirst deine Heilung finden", flüsterte Samira ins Feuer, da war er schon eingeschlafen.

Seine Glieder rissen, als er am späten Morgen erwachte. Die Sonne stand hoch am Himmel. Hope leckte ihm die Wange. Er stand auf, hielt sich schützend die Hand vor die Augen, sah sich um.

Was war in der Nacht geschehen? Es sah aus, als würde sich der Schnee langsam auflösen, zu Wasser werden.
"Samira, wach auf!" Er rüttelte sie am Arm.

"Was ist, Junge?" Sie stützte sich auf ihre Ellbogen.

"Der Schnee schmilzt!" Erid rannte ein Stück und drehte sich im Kreis, um alle Richtungen zu begutachten.

"Das ist ganz natürlich!", rief Samira und winkte ihn zu sich.

"Setz dich, Junge. Du musst noch viel lernen in deinem Leben. Du erinnerst dich an unser Gespräch gestern Nacht?"
Er nickte.

"Beide haben wir ausgesprochen, was uns lange Zeit bedrückt hat. Es war niemand da, mit dem wir unser Leid teilen konnten. Etwas brach in uns auf. Und nun schau vorsichtig zum Himmel. Die Sonne strahlt grell, sie hat sich einen Weg durch die Wolkenbank erkämpft. Ein guter Tag für uns zum Wandern. Am besten wir gehen sofort los." Geschäftig fing sie an ihre Sachen zusammen zu suchen. Erid half ihr dabei und kurze Zeit später machten sie sich auf den Weg. Abrupt blieb Erid stehen. "Sieh!" Er streckte den Arm in Richtung des Hauses aus. "Wir sind nah dran. Lass uns dort hingehen." Er setzte sich in Bewegung. Hope bellte. Erid blickte sich zu ihr um. "Vielleicht befindet sich im Haus etwas, was wir gebrauchen können." Hope knirschte mit den Zähnen.

"Hope, Fuß!" Er klopfte mit der Hand auf sein Bein. Doch die Wölfin gehorchte ihm nicht. "Samira bleib du mit Hope hier, ich gehe und schaue nach."

"Junge, vertrau Hope. Sie …" Erid winkte ab und stapfte davon.

Als er sich dem Haus näherte verspürte er ein Zittern, Kälte stieg in ihm hoch. Plötzlich erschien in der abgestorbenen Landschaft ein brennender Dornenbusch.

"Geh nicht weiter!", vernahm Erid die Stimme, die ihm schon vorher begegnet war. Er blieb stehen.

"Ich will nach Lebensmitteln schauen", sagte er.

"Du wirst Elend vorfinden, vertrau dem Instinkt deiner Wölfin." Der Busch erlosch und verschwand aus Erids Blickfeld. Er beobachtete die Eingangstür und stellte fest, dass sie sich bewegte. Langsam ging sie auf und er erblickte Fellüberzogene Hände. Er hatte das Gefühl, als würde sein Herz für einen Moment aussetzen. Blitzartig ergriff er die Flucht, rannte zurück zu seinen Begleitern. Hinter sich vernahm er tiefe Töne und dazwischen Wolfsgeheul. Plötzlich tauchten aus allen Himmelsrichtungen Wölfe auf. Er blieb stehen, drehte sich um. Die Tiere stürzten sich auf seine Verfolger. Erid kam erst wieder zu Atem, als er Samira und Hope eingeholt hatte. Sie kauerten sich hinter einen Felsbrocken und beobachteten das Furcht einflössende Geschehen. Mit einem Mal waren die Wölfe verschwunden, Hope heulte, dann wurde es still, nur die Melodie war lauter zu vernehmen, als zuvor. In der Ferne erkannten sie, dass das Haus lichterloh brannte.

"Ich hoffe, Junge, du hast daraus gelernt", sagte Samira.

"Das war das letzte Mal, dass ich dir nicht vertraut habe, Hope." Er streichelte über ihr Fell.

Die Sonne brannte auf ihre Häupter, als sie ihren Weg fortsetzten. Erid zog seine Jacke aus. Half Samira einen Teil ihrer Kleidung abzulegen und trug ihre Habseligkeiten. Die Reise ging weiter, untermalt mit der lieblichen Melodie. Hope lief voraus auf einen Berg zu.

..12.12..

©Sigrid Wohlgemuth

 

 
 

 Copyright © 2005
  Stand: 15.12.2006