Samira
blickte auf. Erid erkannte an ihrem Gesichtsausdruck, dass es sie viel Überwindung
kostete, ihm zu antworten. Sie warf den letzten Zweig ins Feuer, den sie
auf ihrem langen Weg gesammelt hatten. Dann räusperte sie sich. Ungeduld
machte sich in Erid breit, zur Beruhigung streichelte er Hopes Kopf.
Endlich blickte Samira auf. Gespannt achtete er auf ihre Lippen.
"Das
ist meine Enkelin." Ihre Augen waren mit Tränen gefüllt.
Erid
schluckte. "Deine Enkelin?" Sie nickte.
"Aber
…" Er wurde durch eine Handbewegung von Samira gebeten nicht weiter
zu sprechen.
"In
den Städten herrschten Aufstände, kaum einer hatte Arbeit, in den
Rinnsteinen stapelten sich Unräte, die Industrie hatte das Wasser
verseucht. Die Menschen wurden krank, unzählige starben entstellt an
einer seltsamen Krankheit. Mein Mann, unsere Tochter, ihr Ehemann und
Ariadne, meine Enkeltochter - gemeinsam fohlen wir aus der Stadt. Gutgläubig
erhofften wir in den Wäldern Zuflucht zu finden und verschont zu bleiben.
Wir gruben uns Erdlöcher, lebten darin. Doch mit der Zeit kamen sie, die
Gestalten. Verseuchte Menschen. Aus Angst uns anzustecken, griffen wir
eilig was wir tragen konnten. Den Rest ließen wir zurück. Somit verloren
wir von Mal zu Mal mehr unserer Habe." Sie trank einen Schluck Tee.
Erid gab keinen Mucks von sich, mechanisch streichelte er weithin Hope.
Seine Muskeln waren angespannt, Erinnerungen rissen in ihm auf. Gedanken
an seine eigene Flucht, an den schmerzlichen Verlust von Irin, seiner
Liebe. Bilder stiegen vor seinem inneren Auge auf. Er versuchte sie durch
starkes Kopfschütteln zu verscheuchen. Samira achtete nicht auf ihn,
schaute ins Feuer.
"Wir
kamen an einen Fluss. Grünbräunliches Wasser strömte zu unseren Füßen.
Die Pflanzen am Ufer waren abgestorben, kein Leben zu finden. Tote Fische
trieben Stromabwärts. Uns waren die Lebensmittel ausgegangen, wir hatten
kein frisches Wasser. Der Winter stand vor der Tür. ‘Wir müssen über
den Fluss’, sagte meine Tochter und suchte nach einer Stelle, wo wir hinüber
gehen konnten. Wir stießen auf einen quer gelegten Baumstamm, der
geeignete Weg. Ich ging mit Ariadne voraus. Als wir das gegenüberliegende
Ufer erreicht hatten folgte der Rest der Familie. Sie standen auf dem
Stamm, hielten sich an den Händen. Auf einmal stürmten Gestalten aus dem
Nichts. Vermummt, bis auf ihre Augen, aus denen gelbe Flüssigkeit
tropfte. Sie gaben gutturale Töne von sich. Ich schrie, doch es war zu spät.
Ich sah wie meine Tochter mir zuwinkte wegzulaufen, dann ging sie,
gemeinsam mit Vater und Ehemann im verseuchten Fluss unter. Die zum
Aussterben verdammten Menschen hatten den Baumstamm mit Tritten ins Wanken
gebracht." Samira hielt sich die Hände vors Gesicht, weinte still.
"Und
deine Enkelin?"
Sie
zuckte mit den Schultern. "Ich habe sie danach nicht mehr
gesehen."
Erid
kauerte sich neben die alte Frau, berührte sie sanft an der Schulter.
"Es tut mir leid", flüsterte er.
Sie
blickte auf. "Du hast doch auch einen Menschen verloren, oder?"
Erid zuckte zusammen. "Kannst du in mein Innerstes sehen?"
"Nicht
in deins, doch ins Innere des Hoffnungssterns. Ich sagte dir doch, dort
bewegt sich etwas in ihm. Es ist eine Frau, wunderschön, in bunten
Kleidern gewickelt. Ihre Arme sind ausgestreckt, sie versucht etwas zu
…"
"Hör auf!", schrie Erid, sprang auf und hielt sich die Ohren
zu. Er entfernte sich ein Stück vom Lager. Hope war sofort an seiner
Seite. Erid ließ sich in den Schnee fallen, trommelte mit den Fäusten
darauf, schrie: "Ich wollte sie nicht zurück lassen. Vor Schreck
erstarrt stand ich da. Nach Hilfe schreiend streckte sie ihre Arme nach
mir aus. Irin lag am Boden, an ihren Beiden zogen die Gestalten sie immer
weiter von mir weg. Dann hörte ich sie schreien: ‘Lauf, Erid, lauf und
gib deine Hoffnung niemals auf!’ Als wäre es ein Befehl drehte ich mich
weg und rannte davon ohne zurückzublicken. Ich war schon weit entfernt,
da vernahm ich einen letzten herzzerreißenden Schrei. Dann wurde es
totenstill. Doch ich blieb nicht stehen, lief bis die Lunge schmerzte,
meine Beine mich nicht mehr trugen. Ich ließ mich auf einem Felsen
nieder. Tage später fand ich die Höhle, in der ich drei Jahre lebte. Mit
Furcht, bei jedem meiner Schritte, dass sie mich finden würden." Er
sank erschöpft zusammen. Hope legte sich über seinen Körper und
spendete ihm Wärme.
"Keine
Angst, Erid, du wirst deine Heilung finden", flüsterte Samira ins
Feuer, da war er schon eingeschlafen.
Seine
Glieder rissen, als er am späten Morgen erwachte. Die Sonne stand hoch am
Himmel. Hope leckte ihm die Wange. Er stand auf, hielt sich schützend die
Hand vor die Augen, sah sich um.
Was
war in der Nacht geschehen? Es sah aus, als würde sich der Schnee langsam
auflösen, zu Wasser werden.
"Samira, wach auf!" Er rüttelte sie am Arm.
"Was
ist, Junge?" Sie stützte sich auf ihre Ellbogen.
"Der
Schnee schmilzt!" Erid rannte ein Stück und drehte sich im Kreis, um
alle Richtungen zu begutachten.
"Das
ist ganz natürlich!", rief Samira und winkte ihn zu sich.
"Setz
dich, Junge. Du musst noch viel lernen in deinem Leben. Du erinnerst dich
an unser Gespräch gestern Nacht?"
Er nickte.
"Beide
haben wir ausgesprochen, was uns lange Zeit bedrückt hat. Es war niemand
da, mit dem wir unser Leid teilen konnten. Etwas brach in uns auf. Und nun
schau vorsichtig zum Himmel. Die Sonne strahlt grell, sie hat sich einen
Weg durch die Wolkenbank erkämpft. Ein guter Tag für uns zum Wandern. Am
besten wir gehen sofort los." Geschäftig fing sie an ihre Sachen
zusammen zu suchen. Erid half ihr dabei und kurze Zeit später machten sie
sich auf den Weg. Abrupt blieb Erid stehen. "Sieh!" Er streckte
den Arm in Richtung des Hauses aus. "Wir sind nah dran. Lass uns dort
hingehen." Er setzte sich in Bewegung. Hope bellte. Erid blickte sich
zu ihr um. "Vielleicht befindet sich im Haus etwas, was wir
gebrauchen können." Hope knirschte mit den Zähnen.
"Hope,
Fuß!" Er klopfte mit der Hand auf sein Bein. Doch die Wölfin
gehorchte ihm nicht. "Samira bleib du mit Hope hier, ich gehe und
schaue nach."
"Junge,
vertrau Hope. Sie …" Erid winkte ab und stapfte davon.
Als
er sich dem Haus näherte verspürte er ein Zittern, Kälte stieg in ihm
hoch. Plötzlich erschien in der abgestorbenen Landschaft ein brennender
Dornenbusch.
"Geh
nicht weiter!", vernahm Erid die Stimme, die ihm schon vorher
begegnet war. Er blieb stehen.
"Ich
will nach Lebensmitteln schauen", sagte er.
"Du
wirst Elend vorfinden, vertrau dem Instinkt deiner Wölfin." Der
Busch erlosch und verschwand aus Erids Blickfeld. Er beobachtete die
Eingangstür und stellte fest, dass sie sich bewegte. Langsam ging sie auf
und er erblickte Fellüberzogene Hände. Er hatte das Gefühl, als würde
sein Herz für einen Moment aussetzen. Blitzartig ergriff er die Flucht,
rannte zurück zu seinen Begleitern. Hinter sich vernahm er tiefe Töne
und dazwischen Wolfsgeheul. Plötzlich tauchten aus allen
Himmelsrichtungen Wölfe auf. Er blieb stehen, drehte sich um. Die Tiere
stürzten sich auf seine Verfolger. Erid kam erst wieder zu Atem, als er
Samira und Hope eingeholt hatte. Sie kauerten sich hinter einen
Felsbrocken und beobachteten das Furcht einflössende Geschehen. Mit einem
Mal waren die Wölfe verschwunden, Hope heulte, dann wurde es still, nur
die Melodie war lauter zu vernehmen, als zuvor. In der Ferne erkannten
sie, dass das Haus lichterloh brannte.
"Ich
hoffe, Junge, du hast daraus gelernt", sagte Samira.
"Das
war das letzte Mal, dass ich dir nicht vertraut habe, Hope." Er
streichelte über ihr Fell.
Die
Sonne brannte auf ihre Häupter, als sie ihren Weg fortsetzten. Erid zog
seine Jacke aus. Half Samira einen Teil ihrer Kleidung abzulegen und trug
ihre Habseligkeiten. Die Reise ging weiter, untermalt mit der lieblichen
Melodie. Hope lief voraus auf einen Berg zu.
..12.12..
©Sigrid
Wohlgemuth