Rachel
breitete gerade eine Reihe gelbstichiger Fotos auf Sarahs und ihrem
Klapptischchen aus, als das „Bitte-anschnallen“-Signal über ihnen
aufleuchtete.
„Schon?“
Sarah beugte sich vor, und blickte an ihrem Nachbarn vorbei aus dem
Kabinenfenster. Sie schwammen in einer zähen Wolkensuppe, die sie
scheinbar am Vorwärtskommen hinderte.
Das
Flugzeug sackte in ein Luftloch; zwei Fotos segelten von den Tischchen.
Rachel hing halb über dem Gang, um das eine aufzuheben, während Sarah
tiefer in ihren Sitz rutschte, um mit einem Fuß nach dem anderen zu
angeln. Da erlosch das Licht; die bläulichen Lichter der Notbeleuchtung
gaben den vier Passagieren das Aussehen von Gespenstern. Sarah schüttelte
sich.
„Ich
hasse fliegen! Erst recht in diesen winzigen Charter-Maschinen.“ Rachels
Hand umklammerte einen Augenblick Sarahs Arm. „Entschuldigen Sie; ich
wollte eigentlich die Armlehne.“
Das
Flugzeug tat einen weiteren Hüpfer; die Stewardess vor ihnen erhob sich
von ihrem Sitz und ging in die Pilotenkanzel. Als sie zurückkam, hätte
Sarah schwören mögen, sie sah noch gespenstischer aus. Angesichts von
Rachels Nervosität verkniff sie sich eine Bemerkung. Angestrengt lauschte
sie nach draußen, aber da war kein Geräusch außer dem beruhigend
gleichmäßigen Schnurren der Motoren. „Jetzt kann es eigentlich nicht
mehr lange dauern.“
Rachel
begann, die Bilder zusammenzuraffen. „Schade; jetzt kann ich Sie Ihnen
nicht mehr zeugen, bevor wir abgeholt werden.“
„Abgeholt?“
„Was
dachten Sie? Dass es eine Straßenbahn gibt bis in die Berge? - Ich habe
Thoren angerufen.“ Sie deutete auf den Fotostapel. „Mein Enkel. “
„Danke“,
war alles, was Sarah dazu einfiel. Sie lehnte sich zurück und ließ sich
vom Motorengeräusch einschläfern.
Eine
heftige Bewegung des Flugzeugs riss sie wieder hoch, dann knarzte das
Bordmikrofon. Mit knappen Worten kündigte der Pilot an, dass der
Flughafen wegen des Wetters gesperrt war und sie zu auf einem kleinen
Privatflughafen hundert Kilometer entfernt landen würden.
Rachel
tippte der Stewardess auf die Schulter. „Wie kommen wir von dort
weiter?“
„Gar
nicht. Wir starten wieder, sobald sich das Wetter bessert.“
Zehn
Minuten später kreisten sie über dem Flughafen. Die Landebahn war von
Fackeln erleuchtet und auf der Piste fuhr ein Räumfahrzeug, um sie vom
Schnee zu befreien. Sarah hielt nach dem Flughafengebäude Ausschau, aber
sie sah kein Licht. „Kann uns nicht Thoren abholen?“
„Bei
der Entfernung! Was glaubst du, womit er fährt?“
Der
Ton der Frage ließ Sarah stutzen; der Anblick des Räumfahrzeugs, das
gerade wendete, brachte sie auf einen abenteuerlichen Gedanken. „Einen
Schneepflug?“
Rachel
lachte. „Gar nicht so dumm. Er kommt mit einem Pferdeschlitten; ganz
altmodisch.“
Sarah
zuckte die Achseln. „Dann warten wir halt etwas länger. Wenn sie da
drinnen nur einen Kaffee haben.“
Es
gab keinen Kaffee und das Flughafengebäude war kalt, weil schon vor
Stunden der Strom ausgefallen war. So blieben sie im Flugzeug und
warteten.
Es
war etwas weniger dunkel – später Vormittag -, als Thoren endlich kam.
Zwischen Pelzmütze und Fellmantel lachte ihnen ein wettergegerbtes
Gesicht entgegen, als sie die Gangway hinunterstiegen.
Er
hüllte sie in einen ganzen Stapel schwerer Felle, bevor er losfuhr. Am
Pferdegeschirr waren Glöckchen angebracht, die leise hell klingelten.
Rechts und links vom Kutschbock brannten Petroleumlampen, die so wenig
Licht gaben, dass Sarah sich fragte, wie Thoren in der Nacht den Weg hatte
finden können.
Sie
fuhren durch mehrere Dörfer, in denen vor allem die Kinder auf der Straße
waren und im Schnee spielten. Über die Mittagszeit war es hell genug,
dass Sarah einen Eindruck von der Landschaft bekam. Thoren hielt vor einem
Gasthaus, in dem sie essen und sich aufwärmen konnten. Und die Wirtin
ihnen eine beträchtliche Menge Schnaps aufdrängte. Als sie weiterfuhren,
war es schon wieder nachtdunkel.
Sarah
kuschelte sich müde in ihre Decken und zog den Schal übers Gesicht; zu
sehen gab es eh nichts mehr.
Plötzlich
schreckte ein lautes Jaulen sie auf. „Gibt es hier Wölfe?“
Rachel
suchte unter den Fellen nach Sarahs Hand und drückte sie. „Kein Grund
zur Sorge.“
„Sie
scheinen ganz in der Nähe zu sein.“ Sarah flüsterte unwillkürlich,
als wolle sie verhindern, dass die Wölfe sie hörten. Die klingelnden Glöckchen
kamen ihr plötzlich sehr leichtsinnig vor.
„Es
sind höchstens zwei“, rief Thoren vom Kutschbock zu ihnen herüber.
Sarah
schob den Schal vom Gesicht und richtete sich auf, um besser lauschen zu können.
Das Jaulen begleitete sie eine Weile, aber dann verstummte es ganz.
Vor
ihnen türmte sich eine Schneewehe auf; die Pferde liefen langsamer und
sanken bald immer tiefer ein. Thoren ließ sie halten und stieg ab. Er
nahm eine der Laternen und entfernte sich.
„Was
ist, wenn die Wölfe wiederkommen?“
„Wölfe
fürchten sich vor Feuer. Mein Gott, Sarah, seien Sie doch nicht so ängstlich.“
Thoren
kehrte zurück. „Wir fahren durch den Wald.“ Er spannte die Pferde
aus, zog die Leinen über den Schlitten und ließ sie ihn dann ein Stück
zurück ziehen.
Einige
hundert Meter ging es über ein verschneites Feld; dann erreichten sie den
Waldrand und dort gab es auch wieder einen Weg. Der Schlitten holperte
dahin.
Wieder
jaulten Wölfe und dieses Mal waren es viele; Sarah war sich ganz sicher.
Sie jaulten rechts und links des Weges und sie kamen näher. Es knackte
und raschelte im Unterholz.
Thoren
ließ die Peitsche knallen und die Pferde liefen schneller.
„Sind
Sie sicher, dass sie uns nicht angreifen?“
Rachel
antwortete nicht.
Der
Schlitten sprang über eine Wurzel und rutschte dann einen Baum
entlang. Die Pferde wieherten erschreckt und fielen in Galopp. Thoren
versuchte vergeblich, sie zu zügeln.
Rachel
und Sarah hielten sich krampfhaft an den Seitenwänden fest, als vor ihnen
eine enge Kehre in Sicht kam. Der Schlitterte schleuderte erneut; dann . verkeilte er sich zwischen zwei Bäumen.
Fluchend
stieg Thoren vom Bock. Die jaulenden Wölfe kamen näher. Sarah sah zwei
gelbe Lichter zwischen den Zweigen eines Buschs auftauchen.
..12.12..
©Annemarie
Nikolaus