11. Dezember 2007

 

 

 

 

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Rachel breitete gerade eine Reihe gelbstichiger Fotos auf Sarahs und ihrem Klapptischchen aus, als das „Bitte-anschnallen“-Signal über ihnen aufleuchtete.

„Schon?“ Sarah beugte sich vor, und blickte an ihrem Nachbarn vorbei aus dem Kabinenfenster. Sie schwammen in einer zähen Wolkensuppe, die sie scheinbar am Vorwärtskommen hinderte.

Das Flugzeug sackte in ein Luftloch; zwei Fotos segelten von den Tischchen. Rachel hing halb über dem Gang, um das eine aufzuheben, während Sarah tiefer in ihren Sitz rutschte, um mit einem Fuß nach dem anderen zu angeln. Da erlosch das Licht; die bläulichen Lichter der Notbeleuchtung gaben den vier Passagieren das Aussehen von Gespenstern. Sarah schüttelte sich.

„Ich hasse fliegen! Erst recht in diesen winzigen Charter-Maschinen.“ Rachels Hand umklammerte einen Augenblick Sarahs Arm. „Entschuldigen Sie; ich wollte eigentlich die Armlehne.“

Das Flugzeug tat einen weiteren Hüpfer; die Stewardess vor ihnen erhob sich von ihrem Sitz und ging in die Pilotenkanzel. Als sie zurückkam, hätte Sarah schwören mögen, sie sah noch gespenstischer aus. Angesichts von Rachels Nervosität verkniff sie sich eine Bemerkung. Angestrengt lauschte sie nach draußen, aber da war kein Geräusch außer dem beruhigend gleichmäßigen Schnurren der Motoren. „Jetzt kann es eigentlich nicht mehr lange dauern.“

Rachel begann, die Bilder zusammenzuraffen. „Schade; jetzt kann ich Sie Ihnen nicht mehr zeugen, bevor wir abgeholt werden.“

„Abgeholt?“

„Was dachten Sie? Dass es eine Straßenbahn gibt bis in die Berge? - Ich habe Thoren angerufen.“ Sie deutete auf den Fotostapel. „Mein Enkel. “

„Danke“, war alles, was Sarah dazu einfiel. Sie lehnte sich zurück und ließ sich vom Motorengeräusch einschläfern.

Eine heftige Bewegung des Flugzeugs riss sie wieder hoch, dann knarzte das Bordmikrofon. Mit knappen Worten kündigte der Pilot an, dass der Flughafen wegen des Wetters gesperrt war und sie zu auf einem kleinen Privatflughafen hundert Kilometer entfernt landen würden.

Rachel tippte der Stewardess auf die Schulter. „Wie kommen wir von dort weiter?“

„Gar nicht. Wir starten wieder, sobald sich das Wetter bessert.“

Zehn Minuten später kreisten sie über dem Flughafen. Die Landebahn war von Fackeln erleuchtet und auf der Piste fuhr ein Räumfahrzeug, um sie vom Schnee zu befreien. Sarah hielt nach dem Flughafengebäude Ausschau, aber sie sah kein Licht. „Kann uns nicht Thoren abholen?“

„Bei der Entfernung! Was glaubst du, womit er fährt?“

Der Ton der Frage ließ Sarah stutzen; der Anblick des Räumfahrzeugs, das gerade wendete, brachte sie auf einen abenteuerlichen Gedanken. „Einen Schneepflug?“

Rachel lachte. „Gar nicht so dumm. Er kommt mit einem Pferdeschlitten; ganz altmodisch.“

Sarah zuckte die Achseln. „Dann warten wir halt etwas länger. Wenn sie da drinnen nur einen Kaffee haben.“

Es gab keinen Kaffee und das Flughafengebäude war kalt, weil schon vor Stunden der Strom ausgefallen war. So blieben sie im Flugzeug und warteten.

 

 

Es war etwas weniger dunkel – später Vormittag -, als Thoren endlich kam. Zwischen Pelzmütze und Fellmantel lachte ihnen ein wettergegerbtes Gesicht entgegen, als sie die Gangway hinunterstiegen.

Er hüllte sie in einen ganzen Stapel schwerer Felle, bevor er losfuhr. Am Pferdegeschirr waren Glöckchen angebracht, die leise hell klingelten. Rechts und links vom Kutschbock brannten Petroleumlampen, die so wenig Licht gaben, dass Sarah sich fragte, wie Thoren in der Nacht den Weg hatte finden können.

Sie fuhren durch mehrere Dörfer, in denen vor allem die Kinder auf der Straße waren und im Schnee spielten. Über die Mittagszeit war es hell genug, dass Sarah einen Eindruck von der Landschaft bekam. Thoren hielt vor einem Gasthaus, in dem sie essen und sich aufwärmen konnten. Und die Wirtin ihnen eine beträchtliche Menge Schnaps aufdrängte. Als sie weiterfuhren, war es schon wieder nachtdunkel.

Sarah kuschelte sich müde in ihre Decken und zog den Schal übers Gesicht; zu sehen gab es eh nichts mehr.

Plötzlich schreckte ein lautes Jaulen sie auf. „Gibt es hier Wölfe?“

Rachel suchte unter den Fellen nach Sarahs Hand und drückte sie. „Kein Grund zur Sorge.“

„Sie scheinen ganz in der Nähe zu sein.“ Sarah flüsterte unwillkürlich, als wolle sie verhindern, dass die Wölfe sie hörten. Die klingelnden Glöckchen kamen ihr plötzlich sehr leichtsinnig vor.

„Es sind höchstens zwei“, rief Thoren vom Kutschbock zu ihnen herüber.

Sarah schob den Schal vom Gesicht und richtete sich auf, um besser lauschen zu können. Das Jaulen begleitete sie eine Weile, aber dann verstummte es ganz.

Vor ihnen türmte sich eine Schneewehe auf; die Pferde liefen langsamer und sanken bald immer tiefer ein. Thoren ließ sie halten und stieg ab. Er nahm eine der Laternen und entfernte sich.

„Was ist, wenn die Wölfe wiederkommen?“

„Wölfe fürchten sich vor Feuer. Mein Gott, Sarah, seien Sie doch nicht so ängstlich.“

Thoren kehrte zurück. „Wir fahren durch den Wald.“ Er spannte die Pferde aus, zog die Leinen über den Schlitten und ließ sie ihn dann ein Stück zurück ziehen.

Einige hundert Meter ging es über ein verschneites Feld; dann erreichten sie den Waldrand und dort gab es auch wieder einen Weg. Der Schlitten holperte dahin.

Wieder jaulten Wölfe und dieses Mal waren es viele; Sarah war sich ganz sicher. Sie jaulten rechts und links des Weges und sie kamen näher. Es knackte und raschelte im Unterholz.

Thoren ließ die Peitsche knallen und die Pferde liefen schneller.

„Sind Sie sicher, dass sie uns nicht angreifen?“

Rachel antwortete nicht.

Der Schlitten sprang über eine Wurzel und rutschte dann einen Baum entlang. Die Pferde wieherten erschreckt und fielen in Galopp. Thoren versuchte vergeblich, sie zu zügeln.

Rachel und Sarah hielten sich krampfhaft an den Seitenwänden fest, als vor ihnen eine enge Kehre in Sicht kam. Der Schlitterte schleuderte erneut; dann . verkeilte er sich zwischen zwei Bäumen.

Fluchend stieg Thoren vom Bock. Die jaulenden Wölfe kamen näher. Sarah sah zwei gelbe Lichter zwischen den Zweigen eines Buschs auftauchen.

..12.12..

©Annemarie Nikolaus

 

 
 

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  Stand: 13.12.2007