- Leseprobe aus: "Die
Kaliberklipper" -
Kiki schnappte ihr Fahrrad. Zum Glück
Wochenende. Auch noch ein langes. Sie radelte aus der Stadt heraus, auf dem
Fahrradweg an der großen Straße entlang. Sie trat heftig in die Pedale. Es
reichte ihr. Drei große Schwestern, die sie kritisierten waren drei große
Schwestern zu viel.
An der Abzweigung zu Omis Haus
schaltete die Ampel rechtzeitig auf grün. Kiki legte sich in die Kurve, schoss
an den Fußgängern vorbei, jetzt noch den kleinen Berg hoch, dann war sie da.
Auf dem Nachbargrundstück winkte ein Gartenzwerg. Aus den Zaunlatten von Omis
Garten quollen Pfingstrosen hervor. Am Haus rankte Spalierobst. Überhaupt sah
es bei Omi anders aus als auf den anderen Grundstücken. Das Haus selbst war
klein, der Garten dahinter riesig, nebenan war es andersrum.
Bevor Kiki ihr Mountainbike
abstellte, schallte Omis Stimme aus dem Küchenfenster: „Mein kleiner Grashüpfer
ist da! Haben dich deine Schwestern wieder geärgert?“
Ärgern war kein Ausdruck. Sie
waren unerträglich.
„Ich verschwinde in mein
Schloss!“ Kiki sauste zum hinteren Ende des Gartens. Dort thronte ihr Baumhaus
in der Astgabel einer Buche mit direktem Blick zum Wald. Sie kletterte die
vierzehn Sprossen der Leiter hoch und schmiss den Rucksack mit Trinkflasche und
den Wechselkleidern für das Wochenende zur Seite. Sie legte sich auf den Bauch.
Große Zwischenräume gaben den Blick ins dunkelgrüne Blättermeer frei. Haus
und Dorf lagen hinter ihr, weit weg. Kiki lauschte. Sie hörte Tapsen, Rascheln
und Piepsen. Und stellte sich vor, dass sie die Sprache der Waldwesen verstehen
könne. Sie wollte so etwas wie Tierarzt für den Wald werden. Aber Papa sagte,
dass man entweder Tierarzt oder Förster werden könne. Man müsse sich schon
entscheiden. Mama hatte ihr mal vom Pferdeflüsterer erzählt. Seit dem hatte
sich Kiki vorgenommen, einen neuen Beruf zu erfinden: Waldflüsterer. Oder so.
Plötzlich traf sie ein
Tannenzapfen auf dem Rücken.
„Grashüpfer, darf ich
raufkommen?“ rief Angeber - Dirk.
„Ich will allein sein“, rief
Kiki. Sie mochte den dicken Jungen aus der Siedlung zwei Straßen weiter nicht
besonders. Aber jedes Mal, wenn sie bei Omi war, schaute er vorbei. Als ob er
auf sie wartete.
„Deine Lattenbude ist wohl zu
wackelig für zwei?“
Dirk war so dick, dass er Recht
haben könnte.
„Du bist ja nur neidisch!“, röhrte
Kiki.
Ihr Vater hatte ihr geholfen, das
Baumhaus zu bauen. „Für unseren Grashüpfer, der eigentlich ein Waldteufel
ist“, verkündete er, als es fertig war.
Mama murmelte verärgert: „Jetzt
hockt sie nur da oben, anstatt etwas für die Schule zu tun oder mit Freundinnen
auszugehen.“
„Waldteufel? Das passt“, höhnte
ihre Schwester Amelie. „Unsere Kleine mit den langen Beinen ist eh nicht
normal!“
„Feuerrote Haare wie ein kleines
Teufelchen.“ Die anderen Schwestern hatten sich schlapp gelacht.
Dirk prustete auch los. „Ich und
neidisch? Nee, Grashüpfer, so einen Verschlag habe ich schon tausendmal
gebaut.“
„Angeber“, brummte Kiki.
„Ich könnte dir einen zeigen,
hinter der Faistnerwiese.“
„Ich glaub dir kein Wort. Und
jetzt will ich allein sein.“
„Ich glaub dir auch kein Wort.
In Wirklichkeit darfst du nicht in den Wald, weil du zu klein bist.“
„Ich horche!“
„Mein Gehör ist besser als das
einer Eule!“
Dirks Figur ähnelte auch der
einer Eule. Aber nicht nur das, er stank. Omi sagte, das läge daran, dass er
schnell schwitzte. Er trug billige Plastikpullover und roch nach kaltem
Zigarettenrauch. Da konnte er nichts dafür, sagte Omi, klar, aber hier oben im
Schloss war das unmöglich. Kiki antwortete nicht und Dirk trottete davon. Armer
Kerl. Oder doch nicht. Musste ja nicht ständig Sprüche klopfen.
Kiki langweilte sich tatsächlich.
Das Baumhaus war wunderschön. Aber wann durfte sie endlich allein in den Wald?
Sie war schon 12! Trotzdem beharrten ihre Eltern darauf, dass sie nur mit
Freunden loszog. Zum verrückt werden, denn außer Dirk, wollte niemand mit ihr
zu tun haben.
Da sah sie einen silbrig glänzenden
Fuchsschwanz durch das Geäst blitzen. Und noch einmal. Der Fuchs zog immer
engere Kreise, dann verschwand er wieder.
Kiki schüttelte sich, sie glaubte
zu träumen. Nie näherte sich ein Fuchs so sehr, nicht tagsüber.
Er tauchte wieder auf. Sein Kopf
zuckte und das rechte Ohr wackelte. Das war doch ein Wink, oder? Kiki zögerte.
Sollte sie oder sollte sie nicht?
Majestätisch drehte das Tier sich
um und schritt langsam in den Wald. Die Nachmittagssonne verbreitete weiches
Licht. Es war warm und versprach ein langer, lauer Abend zu werden. Wer sollte
schon erfahren, dass sie sich auf den Weg gemacht hatte? Ihre Eltern wussten,
dass sie das verlängerte Wochenende bei Omi verbringen wollte. Sie war gerne
bei ihr, und die Eltern waren froh wenn Omi nicht so allein war. Aber ihnen war
nicht klar, dass Omi so vergesslich geworden war, dass es ihr vielleicht erst
morgen früh auffiel, wenn Kiki fehlte.
Kiki zog ihr Seil unter dem Stuhl
hervor, steckte sich zwei Äpfel aus dem Vorrat, der immer im Baumhaus lagerte,
in den Rucksack und kletterte auf die Baumhausdachterrasse. Sie befestigte das
Seil mit einem Spezialknoten, den sie von unten lösen konnte und ließ sich
langsam daran herunter, so dass sie hinter dem Gartenzaun direkt im Wald
landete. Herrlich! Wieso war sie nicht schon eher auf die Idee gekommen?
Kein Fuchs weit und breit. Kiki
wickelte sich das Seil um die Schulter und lief vorsichtig weiter. Sie versuchte
lautlos zu schleichen, aber heute gelang es ihr nicht. Jeder Schritt verursachte
ein Rascheln, das in der Stille des Nachmittags wie Flugzeuggetöse klang. So
zog sie sich ihre Turnschuhe aus und lief barfuß weiter. Zuerst stieß sie auf
einen geraden Forstweg, an einer Gabelung bog sie auf einen Trampelpfad ab. Nach
dem eintönigen Wald mit hohen, kahlen Fichten folgte ein verschlungener
Mischwald. Plötzlich stand sie vor einem Wurzelwerk, das so hoch wie ein zweistöckiges
Haus war. Der Weg endete hier.
Kiki griff sich in die Haare. Da
war nichts. Kein Durchgang, kein Hinweis. Als ob sie im Niemandsland ausgesetzt
war. Sie war sich nicht mal sicher, ob sie den Weg nach Hause finden würde.
Blitzartig leuchtete der silbrig
graue Fuchsschwanz durch die Wurzeln durch. Gelbe Augen starrten sie skeptisch
an. Jetzt oder nie, dachte Kiki. Sie schob die Wurzelhaare zur Seite und
kletterte über einen quer liegenden Ast ins Gewirr.
Kiki kroch und kroch und kroch.
Erdklumpen über ihr wackelten,
als ob sie jeden Moment auf sie nieder rieseln würden. Kiki robbte auf allen
Vieren weiter. Um sie herum wurde es immer dunkler. Feine Wurzelhärchen
kitzelten am Hals.
Nach einer Ewigkeit öffnete sich
das Gestrüpp und sie richtete sich langsam auf. Der Rücken schmerzte vom
langen Bücken. Kiki horchte. Ächzen, Stöhnen und Gemurmel. Dazwischen Getöse,
als ob eine Herde Büffel in weiter Entfernung vorbei raste. Es stank nach Maggi
und duftete gleichzeitig nach grünem Wackelpudding.
Die Luft zitterte. Kiki auch. Vor
Glück oder vor Aufregung oder vor Staunen. Sie ging einige Schritte aufrecht
und fand sich in einer kleinen Lichtung wieder. Helle Sonnenstrahlen begrüßten
sie und das hohe Gras schwang leicht hin und her. Die Lichtung war fast
kreisrund und immer wieder wölbten sich moosbedeckte Steine aus dem Gras, wie
kleine Stühlchen.
„Was willst du im Wald der
einsamen Stimmen?“, krächzte jemand vom Boden.
Kiki suchte. War es das Männchen
da hinten, halb so groß wie sie? Mit der ausgefransten Felljacke und
Flickenhose? Das Wesen hob die Nase und sog mit langem Schnaufen Luft ein, drei
Barthaare zu jeder Seite zuckten. Dann hob es abwehrend so etwas wie eine Hand.
Zum Glück war Kiki weit weg, doch das Männchen kam näher.
„Wie bist du überhaupt
hergekommen?“
„Ich – äh – durch den
Wald“, stotterte Kiki.
Das Männchen musterte sie stumm.
„Was kannst du?“
Kikis Hände wurden feucht.
„Du bist doch ein Menschenkind,
oder? Menschen können irgendetwas.“
„Ja, ja“, stotterte Kiki
wieder. Wenn sie nur wüsste was sie antworten sollte. „Was muss ich denn in
diesem Wald können?“, fragte sie um Zeit zu gewinnen.
„Am besten du scherst dich dahin
wo du herkommst, und zwar sofort“, knurrte das Männchen und stellte seine
Ohren spitz auf.
Nein, so schnell nicht, dachte
Kiki. So einfach würde sie sich von diesem krummbeinigen Fuchsmännchen nicht
vertreiben lassen. Hier war die Wildnis. Hier sprachen die Tiere in einer
Sprache, die sie verstehen konnte, hier wackelten die Grashalme zur Begrüßung...
„Ich kann klettern und
schleichen, ich kenne fast alle Pflanzen im Wald und weiß welche giftig sind,
ich kann ...“
„Pah, das können wir auch. Das
hilft uns nicht weiter“, bellte das Fuchsmännchen.
„Kiki ist schlau, sie kann
rechnen wie ein Wiesel und kennt alle Tricks, um im Wald zu überleben“. Die
Stimme drang aus dem Unterholz. Es knackte, Ästchen flogen zur Seite, dann
stand schwer atmend der dicke Dirk in der Lichtung. Wie vorhin trug er Jeans und
T-Shirt. Eine Lederjacke über seiner rechten Schulter, ein Rucksack mit einer
Trinkflasche über der Linken.
„Soso“, sagte das Fuchsmännchen.
Seine gelben Augen hüpften von Kiki zu Dirk und von Dirk zu Kiki.
„Angeber“, zischte Kiki. Dirk
war ihr gefolgt! Trotzdem war sie irgendwie froh, dass er sie unterstützte.
„Soso“, wiederholte das Fuchsmännchen,
„ihr habt hier nichts verloren. Menschenkinder dürfen nicht in den Wald der
einsamen Stimmen, sie können gar nicht hier her kommen. Sie werden in der Großen
Wurzel aufgehalten.“
„Aber wir sind hier“, sagte
Kiki leise.
„Wir sind eben ganz besondere
Menschenkinder“, setzte Dirk hinzu und grinste.
„Warum?“
„Wir haben, was nur Menschen
haben: Grips“, sagte Dirk. Leise zu Kiki fügte er noch hinzu: „Das sagt
deine Großmutter immer.“ Kiki wunderte sich. Sie wusste gar nicht, dass Dirk
mit Omi redete.
„Was soll
das dem Wald bringen?“
„Naja“, Dirk zögerte. „Wer
Verstand hat, kann viel mehr erreichen, als wer nur Kraft hat.“
„Wir können zum Beispiel etwas
heben, das viel schwerer ist, als wir selber“, fügte Kiki hinzu. Sie überlegte
wie sie diesem Wicht beweisen konnte, wie man einen Hebel baute oder einen
Flaschenzug. Dann hielt sie inne, so ein Quatsch, das war in diesem Wald
bestimmt nicht wichtig.
„Also gut.“ Das Fuchsmännchen
strich an den Bäumen entlang. „Nun seid ihr schon mal da. Aber nehmt euch vor
den großen dicken Schweineborstenmantelträgern in Acht. Und noch eines: Dies
ist der Wald der einsamen Stimmen. Hier ist jeder allein, alles ist erlaubt, ihr
dürft nur nicht stören. So ist es und so soll es bleiben.“
Kiki öffnete den Mund, ehe sie
etwas fragen konnte, drehte sich der Winzling um und verschwand. Sein
silbergrauer Schopf glänzte für einen Moment zwischen den Blättern und
Zweigen.
„Bei meiner vollen Feldflasche,
das ist ein Ding.“ Dirk lehnte sich an einen Baumstamm und drehte hektisch ein
Stück Holz zwischen den Fingern. Dann zog er ein Taschenmesser aus der
Hosentasche und begann zu schnitzen.
„Wie bist du eigentlich
hierhergekommen?“, fragte Kiki.
Dirk antwortete nicht. Um sie
herum war es wieder still. Kein entferntes Raunen mehr. Ab und zu zirpte es im
Gras. Das Licht spielte um hohe Grasbüschel, als ob es ihr Gespräch
beleuchtete.
„Kiki, Grashüpfer, deine Stirn
ähnelt einer zerknüllten Zeitung!“ Dirk grinste sie von seinem Posten am
Baum aus an, dann warf er das Hölzchen weg und steckte das Messer wieder ein
„Ich für meinen Teil schau mich erst mal um. Willst mit?“
„Nee danke“, sagte Kiki. „Du
hast es doch gehört: hier ist jeder allein.“ Sie schlüpfte in ihre Schuhe,
die sie bis jetzt in der Hand gehalten hatte, und als sie wieder aufblickte, war
Dirk weg. Gut. Sie kam sehr gut allein zurecht. Sie war es ja gewohnt.
©
2011