- Leseprobe aus: "Die
Kaliberklipper" -
Das Fuchsmännchen Fusulus verließ
nie sein Revier. Warum auch. Um ihn herum herrschte grüne Wildnis. Wässrig grün,
moosgrün, dunkelgrün und überall lindgrün. An manchen Ästen schimmerten
Nadeln, an anderen große, gezackte oder glatte Blätter. Lianen gleich hingen
Waldreben von den Wipfeln. Der Boden verschwand unter Beerensträuchern,
riesigen Blättern des Bärenklaus, lila Blütenrispen vom Fingerhut, weißen
Sternchen des Waldmeisters. Es duftete nach Wiese und morschem Holz.
Fusulus lebte fernab der lärmenden
Welt. So fern, dass normale Menschen seinen Wald gar nicht betreten konnten. Für
sie war vor einer haushohen, umgedrehten Wurzel Halt. Wer versuchte, die Wurzel
zu durchqueren, wurde durch zahlreiche Windungen wieder zurück an seinen
Ausgangspunkt gebracht – normalerweise.
Das Fuchsmännchen gehörte zu den
Waldteufeln und war wie sie kaum größer als ein Meter. Er trug einen
Fellmantel und statt Vorderpfoten kleine Hände. Sein silbrig grauer
Fuchsschwanz leuchtete als Haarschopf. Am liebsten lebte er für sich allein –
tagsüber in einem ehemaligen Dachsbau, der Fellmantel hing an einer
Wurzelspitze. Nur das Rauschen des Windes, das Zirpen einiger Insekten und das
Piepsen von Rotkehlchen war zu hören.
Wenn es dämmerte, schwärmten die
Waldteufel aus. Fuchsmännchen, Waldkäuze, Wildkatzen, Siebenschläfer und die
anderen zogen fröhlich plappernd durch den Wald, ohne sich gegenseitig zuzuhören
oder gar miteinander zu plaudern. Sie schwangen an Lianen, höher und immer
weiter, wenn einer runter fiel, hatte er Pech gehabt. Sie sangen wilde Lieder,
die Töne passten nur zufällig zusammen. Der Wald und alle Bäume und Äste und
Blätter und Nadeln schwangen mit den Geräuschen.
Doch dieser Abend gestaltete sich
anders. Fusulus setzte gerade zum Sprung an, um einen Marder einzufangen, als
ein Baum haarscharf neben ihm nieder krachte. Der Stamm zerbarst nicht, sondern
der Baum steckte verkehrt herum im Boden. Seine Wurzeln wedelten wie wild durch
die Luft. Kein Sturm hatte solche Kräfte.
Dem ersten Stamm folgten weitere,
immer schnurgerade einer Linie nach. Fusulus verbarg sich hinter Gebüsch. Ein
Schnaufen, Prusten und Rülpsen näherte sich, das er noch nie gehört hatte.
Gleichzeitig drangen empörte Rufe der anderen Waldteufel an sein Ohr: Das
fordernden „Juik“ der Waldkäuze, das wütenden Bellen der Füchse, das
Fauchen der Wildkatzen.
Dann sah Fusulus die
Eindringlinge.
Durch das verwüstete Unterholz
staksten Wesen auf zwei Beinen, sie trugen lange Mäntel aus Schweineborsten und
einen Schweinenasenstempel mitten im Gesicht. Über und über mit verkrustetem
Schlamm bedeckt, beugten sie sich ab und zu vor, um auf allen Vieren
weiterzulaufen, dann richteten sie sich auf und stolzierten wie dicke mächtige
Könige.
„Die Kaliberkipper sind schon
wieder da“, dachte Fusulus und ärgerte sich erst nur.
Der Dickste unter ihnen schnaufte
tief durch. „Ist das ein Spaß! Folgt mir, wir richten den säuselnden
Sonnenscheinchen im Wald der einsamen Stimmen eine richtige Sause aus!“
Fusulus verzog sich noch tiefer
ins Gebüsch, aber nur so weit, dass er die Stimmen noch verstehen konnte.
„Was für eine uneingeschränkte,
unglaubliche, unermessliche Dummheit. Wo uns der Nachwuchs fehlt, will der große
Anführer toben gehen“, nuschelte ein schmächtiger Schweineborstenmantelträger
ganz in Fusulus’ Nähe. „Wo wir uns auf die Suche nach Opfern machen
sollten, will der starke Napoleon nur Bäume ausreißen.“
Fusulus Ohren stellten sich spitz
auf. Opfer hier in diesem Wald? Das gab es noch nie. Normalerweise verwandelten
Kaliberkipper nur im Menschenwald die Wildschweine.
Einerseits wünschte er,
unsichtbar zu sein, um noch mehr zu erfahren. Andererseits musste die Verwüstung
gestoppt werden. Wenn ihm doch nur Donner, Blitz und Prassereien zu Hilfe kämen!
Aber nichts geschah.
Fusulus sah, wie ein völlig mit
Schlamm bedeckter Schweineborstenmantelträger dem Schmächtigen eine
Wildschweinpfote auf die Schulter legte.
„Still, Verwandlungsmeister.
Wachturm sieht und hört alles. Aber du hast Recht, also will ich dich nicht
verraten. Napoleon vergisst, für Nachwuchs zu sorgen, sonst werden wir bald
alle jämmerlich zu Grunde gehen!“
Fusulus kratzte sich am Ohr.
Verwandlungsmeister, Wachturm und der Chef heißt Napoleon. So viel hatte er
noch nie erfahren.
„Die Kaliberkipper sterben aus,
weil der Chef nicht für Nachwuchs sorgt. Er wird alt! Aber ich, der
Verwandlungsmeister, habe ein neues Mittel gefunden ...“ nickte der Schmächtige
und versenkte seine Schnauze in den Eingang zu Fusulus Dachsbau, wühlte so kräftig,
dass Erdklumpen durch die Gegend flogen.
Nun war der Bau zerstört und
Fusulus’ Revier verwüstet.
Der Kaliberkipper tauchte wieder
auf und strahlte Napoleon, der auf ihn zu galoppierte, aus seinen Wildschweinäugelein
an.
„Hin und her, her und hin, immer
kommt mir etwas in den Sinn“, sang der Verwandlungsmeister. „Geliebter Großmeister
Napoleon, gütige Kaliberkipperseele, ich habe eine Überraschung für dich, für
uns.“
Bei dem Wort „Überraschung“
stoppte Napoleon, drehte ab und hob einen riesigen Haselnussstrauch direkt neben
Fusulus in die Höhe. „Überraschung?“, nuschelte er während er den Strauch
mit der Pfote schüttelte.
„Überraschung.“
„Was für eine Überraschung“,
knurrte Napoleon.
Fusulus reckte sich, um besser
sehen zu können. Dabei rutschte er in das tiefe Loch, in dem gerade eben noch
der Haselnussstrauch wurzelte. Sofort beugten sich drei schlammige Schnauzen mit
mächtigen Hauern über den Rand.
„Oh, was für ein selten süffiges
Sauseemplar eines Waldteufels. Zu schade, dass wir die nicht verwandeln können.“
Die Schweinsaugen grinsten höhnisch über Fusulus.
„Still, das ist es ja gerade.
Wir können, aber dazu müssen wir erst in
unser Reich zurückkehren“, flüsterte die eine Schnauze. „Den hier heben
wir uns für später auf.“
Eine andere wandte sich ab. „Wir
kehren in den Schattenwald um. Für heute ist es genug. Hören wir, was unser
Verwandlungsmeister zu sagen hat. Dann werden unsere Sonnenscheinchen hier etwas
erleben.“
Fusulus hörte Trampeln und
Poltern. Während ihres Rückzuges schienen die Kaliberkipper weitere Bäume zur
Seite zu drücken. Sie durchwühlten das Unterholz und schmatzten und grunzten
zufrieden.
Endlich wurde es still. Nur das
Jammern und Klagen der Waldteufel war zu hören. Fusulus kroch aus dem Erdloch.
„Kaliberkipper sind bei uns
eingefallen. Warum hört das nie auf?“ rief Wildcat, die Wildkatze.
„Alles hin“, stöhnte GlisGlis,
der Siebenschläfer, „und geweckt haben mich diese Monster auch noch.“
„Haps, Haps, wir sind verloren,
sie werden wiederkommen“, klang es vierfach aus den Mündern einer Eichhörnchen
Familie.
„Neuste Nachrichten“, quiekte
ein Waldkauz mit gelber Rabenschnauze. „Der Wald der einsamen Stimmen ist
verloren!“
Fusulus rieb sich an den Wurzeln
eines umgestürzten Baumes. Ein Schauer glitt über seinen Körper. Nach und
nach verwandelte sich der kurze Hals in einen majestätischen Fuchsnacken, der
silbrig glänzende Zopf blieb ihm als Schwanz, aus den Armen wurden Vorderläufe
mit Pfoten. Die behaarte Brust veränderte sich in ein dichtes rotbraunes Fell.
„Dies ist der Wald der einsamen
Stimmen. Hier ist jeder allein. So ist es und so soll es bleiben. Niemand darf
uns stören!“, bellte er, bevor er ganz in einen Fuchs verwandelt war. Das
klang sicher und stolz, doch im Grunde wusste Fusulus nicht weiter. Er preschte
los. Über querliegende Stämme, an Dornensträuchern entlang und mitten durch
Wurzelreste durch. Von den Feldern im Norden, zum Fluss im Westen, von der
Wurzel im Südosten zum Schattenwald im Osten. Der Gestank der Kaliberkipper lag
noch in der Luft. Stunden jagte Fusulus so durch den Wald, nur um den Geruch der
Verwüstung loszuwerden. Dabei merkte er nicht, dass er längst die Grenze zum
normalen Wald überschritten hatte.
©
2011