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"Bis ans Ende der Welt"

Elsa Rieger

- Leseprobe aus: "Ein Mann wie Papa" -

 

 

Da stehe ich an der Bar mit einem Glas trockenen Chardonnay.

Seit Paul vor drei Tagen angerufen hat, frage ich mich, was das für ein Abend werden wird.

Ich betrachte mich im Spiegel hinter dem Tresen. Die Neununddreißig kann ich nicht leugnen, klar. Trotzdem bin ich hübsch, die blonden Haare leuchten, mein Lächeln besticht. Ob es ausreichen wird, dass Paul sich in mich verliebt? Hoffentlich taucht er gleich auf!

Auf einmal spüre ich einen Stoß am Ellenbogen. „Cheerio, Gnädigste. Stehe zum Prosten zur Verfügung." Der ältere Herr, Typ Landedelmann, grinst, hebt sein Glas.

Unglaublich, wie die Leute einen beobachten. Ich proste ihm mitleidig zu. Er parliert charmant über das Wetter, streut ein, wie zauberhaft ich bin, mustert mit feurigen Blicken meinen Ausschnitt.

„Noch einen Chardonnay bitte", sage ich zur Bedienung und stöckle zur Toilette – selbstbewusst. Was ein Kompliment so alles bewirken kann.

Dort allerdings verfliegt das Hochgefühl rasch, denn der Ganzkörperspiegel belehrt mich, dass ich weit entfernt vom Traumfrau–Format bin.

Er zeigt mir die gelbe Karte: „Brustbilder im Thekenspiegel hinter Rauchschwaden sagen gar nichts!" Ich höhne zurück, indem ich die Lippen blutrot ausmale. Welche Frau kann schon mit Model–Maßen brillieren, außer vielleicht Claudia Schiffer, Cindy Crawford, Linda Evangelista und, und, und ...? Außerdem weiß niemand, ob die nicht irgendeinen Makel geheim halten. Vielleicht eine hässliche Warze am Hintern. Zum Beispiel.

Als ich an meinen Platz zurückkehre, zirpt der Landedelmann: „Na, gnädige Frau, werden wir heute noch etwas unternehmen?"

„Wir sicher nicht!", sage ich und schaue auf die Uhr.

Ich habe bewusst nicht Bei Carlos für unsere erste intime Begegnung ausgewählt. Carlos’ Kneipe ist mein Stammlokal. Dort lernte ich Paul vor zwei Jahren durch gemeinsame Freunde kennen. Viele Abende haben wir plaudernd nebeneinander gesessen. Der offizielle Grund für das heutige Treffen fernab unseres Territoriums ist, dass ich Paul meinen Roman lesen lassen möchte. Ich sagte ihm, dass er die Hauptfigur darin sei und ich ihn um ein Feedback bäte. Der Trick hat funktioniert! Es verging keine Woche bis zu seinem Anruf. Aber jetzt stehe ich bereits seit einer Stunde wie blöd herum und muss konversieren, weil er nicht kommt!

Reichlich verärgert zahle ich und mache mich auf den Weg zur Tür. Ausgerechnet so eine Yuppie–Kneipe musste ich aussuchen, jeder hier scheint zu wissen, dass ich versetzt worden bin.

Gerade, als ich nach dem Klinke greife, wird die Tür schwungvoll aufgestoßen. Geistesgegenwärtig hüpfe ich in den Raum zurück.

Da ist er, der Mann, von dem ich seit zwei Jahren träume. Ich fühle, dass wir absolut nicht hierher gehören. Mir steht nicht der Sinn danach, zwischen Geschäftsmännern mit platten Anmachestrategien unser erstes Tête–á–tête zu verbringen. Ich stelle mir eine andere Atmosphäre vor. Paul wirft einen Blick in das überfüllte Lokal, sieht dann mich mit hoch gezogenen Brauen an. Nein, die Stimmung hier behagt ihm so wenig wie mir.

„Gehen wir?", frage ich. Er nickt.

Zumindest mit einer Entschuldigung habe ich gerechnet, etwas wie „Verzeih meine Verspätung" oder so. Aber er sagt keinen Ton auf dem Weg zu seinem Auto.

Ich summe, um meine Aufregung zu kaschieren. Das tue ich häufig. Max, mein Teenagersohn, tätschelt mich, wenn er unmotiviertes Gesumme hört und sagt: „Cool down, Mama. Du schaffst das."

 

Paul hält mir die Autotür auf, wartet, bis ich sitze. Ziemlich gutes Benehmen. Heutzutage eine Seltenheit.

„Wohin geht’s denn?", frage ich nach einer Weile. Wir fahren durch mir unbekanntes Stadtgebiet. Vorstadt. Bei der nächsten roten Ampel trifft mich ein Blick aus tiefblauen Augen: „Bis ans Ende der Welt ..."

Wow!, juble ich insgeheim. Ein romantisches Abenteuer! Ich kuschle mich tiefer in den Sitz und träume von verwegenen Rittern, die heftig ihre Lanzen gegeneinander schwingen, um mich, die Prinzessin, anschließend in die starken Arme zu schließen. „Lancelot ..."

„Paul", korrigiert er.

Ich kichere blöde.

Paul parkt ein. „Nachdem du nicht zu Carlos wolltest, damit wir … warum eigentlich?"

„Ach, immer zu Carlos, wie langweilig. Ich wollte mal Abwechslung", antworte ich leichthin. Es ist entschieden zu früh, Paul meine wahren Gefühle zu offenbaren.

„Das Weinlokal war scheußlich, Zu Carlos willst du nicht. Ich zeige dir was anderes. Früher ging ich hier ein und aus", sagt Paul.

Kann sein, dass diese Spelunke das Ende der Welt ist; zumindest sehen die Besucher und die Ausstattung so aus. Ein höhlenartiger Keller, in dem sich die Luft staut. Ich beschließe, heute keine Zigarette mehr anzurühren, hier kommt man bereits als Passivraucher auf seine Kosten. Wir stellen uns an die Theke, deren Front mit Motorradreifen dekoriert ist.

Dass die Barmaid eine schwarze Klappe über dem linken Auge trägt, finde ich übertrieben.

„Ist echt", sagt Paul.

Ich bleibe bei Wein. Er trinkt Bier.

Ein Typ, komplett in schwarzem Leder, kommt auf uns zu. Der könnte bei jedem Wrestling den ersten Preis machen. Ich schätze ihn auf gut zwei Meter Höhe. In der Breite werden es einundeinhalb sein. Er grinst auf Paul herunter, klopft ihm auf die Schulter und brummt: "Na, Flieger, wie haben wir’s?"

Aha, vermerkt mein Dichterhirn, nicht nur Paul, nicht nur „Rock’n’Roll", wie sein Spitzname in der Zeit war, die ich als Roman verarbeitet habe, auch „Flieger".

Als der Wrestler zu seinem Tisch zurückgekehrt ist, frage ich nach.

„In meiner Motorradzeit war ich einer der wenigen, die mit der hochgezogenen Maschine auf dem Hinterrad fahren konnten. Fliegen, verstehst du? Ist lange her."

Mehr als „Wahnsinn!", fällt mir dazu nicht ein. Was weiß ich von den Ritualen der Highway–Ritter? Diese Phase seines Lebens hat Paul bei Carlos nie erwähnt.

Im Laufe des Abends erfahre ich, dass wir uns hier im Motorradclub der Outsiders befinden. Wie nett! Paul, der Überflieger, wird von allen möglichen Gestalten geherzt, an breite Brustkörbe gedrückt, in aktuelle Ereignisse eingeweiht. Das alles brüllend. Mir pfeifen die Ohren. Ich habe keine laute Stimme und kann wegen des ohrenbetäubenden Easyrider–Sounds nicht mitreden. Ich wüsste auch gar nicht, was ich zu den technischen Updates über Motorräder für Paul beitragen könnte.

Schließlich haben wir beide genug Nikotinnebel inhaliert und verabschieden uns nach zwei Drinks von Seeräuber–Jenny und den Bikers.

„Wohin jetzt?", huste ich, überwältigt von soviel Sauerstoff, als wir wieder auf der Straße stehen. Paul drückt einen Kuss auf mein Ohrläppchen. „Zur dir?", fragt er heiser. Als Fast–Nichtraucher hat er in dem Clublokal wohl ähnliche Luftröhrenprobleme wie ich gehabt.

Jetzt erst rieche ich sein Rasierwasser. Brut, ein Duft, der mich für einen Moment in Erinnerungen entführt ...

*

Papa duftete nach Seife und Brut. Wie liebte ich ihn, der zu früh ging, freiwillig und im vollen Besitz seiner geistigen Kräfte. Er sagte: Was? Nichts mehr trinken? Kein Bier? Keinen Schnaps? Niemals! Ein Jahr mehr, was bringt das schon! Was hab ich davon, wenn ich nicht mehr so leben kann wie ich will! Er war Alkoholiker und ein begnadeter Regisseur. Für ihn schienen Trinken und Beruf untrennbar miteinander verbunden zu sein.

Du fehlst mir, mein Papa ...

Seit dem Tod meines Vaters befand ich mich auf der Suche. Auf der Suche nach einem Mann – einem Mann wie ihm!

Bisher war mir kein Erfolg beschieden. Ja, Trinker oder Mistkerle oder abgehobene Künstler sind mir begegnet, aber nicht einer, kein einziger von ihnen kam annähernd an Papa heran.

*

„Ich kann nicht lange bleiben", sagt er, sobald wir in meinem Wohnzimmer sind.

Was soll das denn, frage ich mich. Zuerst will er mitkommen, dann gleich wieder gehen?

Ich schleudere die Hochhackigen unter das Sofa und schleiche auf Zehenspitzen in die Küche, hole Wein und Gläser. Paul steht herum.

„Setz dich doch, Paul", sage ich und lasse seinen Namen auf der Zunge zergehen. Endlich! Allein mit ihm!

Betont lässig lege ich eine Platte der DOORS auf, Paul soll nicht merken, wie verliebt ich bin. Die Elektrogitarre röhrt durch die Stille, vor Schreck bleibt mir die Luft weg. Rasch drehe ich den Ton zurück, mit fünfzehn braucht Max seinen Schlaf.

Charmant lächelnd setze ich mich neben dem Objekt meiner Leidenschaft aufs Sofa, gieße Wein ein. Paul sagt nichts.

Ich trinke. Seufze ausgiebig. Hüstle. „Magst du die DOORS auch so gerne? Das ist die letzte Aufnahme eines Live-Konzerts, kurz bevor Jim Morrison den Löffel abgab." Mit halb offenen Lippen, die mein Interesse an seiner Antwort bekunden sollen – ich las das in einem Buch über Körpersprache – warte ich.

„Ja, ich mag die DOORS auch."

Paul ist merkwürdig einsilbig. „Alles okay?", frage ich.

„Ich geh dann lieber."

„Wieso denn? Wir wollten doch über meinen Roman reden!" Ich bin sauer. Mein Aufhänger, ihn näher kennen zu lernen, war so gut ausgeklügelt. Und nun das? „Ich wollte dir die Geschichte in groben Zügen erzählen und dich fragen, was du davon hältst. Für die Überarbeitung."

„Ich bin hundemüde, wir werden ein anderes Mal darüber sprechen, vielleicht bei Carlo, okay? Ich hoffe, du bist nicht gekränkt."

Ich lache trillernd. „Ach wo! Allerdings hättest du dir den Weg hierher schenken können. Für eine Viertelstunde hat es sich wirklich nicht gelohnt."

Ich denke nicht daran, mir eine Blöße zu geben und stehe auf, begleite ihn zur Tür.

Er sagt: „Keine Ahnung, wie du über mich schreiben kannst. Wir kennen uns nicht wirklich."

Offenbar war ihm entgangen, wie viel er aus seinem Leben erzählt hatte.

Ich sage: „Natürlich sind einige Details erfunden. Dichterische Freiheit. Ich wollte deine Meinung hören. Mir war wichtig, deinen Charakter einzubringen, die Millionärsgattin und das Aussteigen. Ein tolles Leben, wert, aufgeschrieben zu werden!" Was tu ich denn da? Ich buhle um sein Interesse, furchtbar.

„Irrsinnig toll! Vor allem die Millionärsgemahlin." Er grinst spöttisch. Oder bitter? Paul streicht sich mit dem Ringfinger über die Stirn! Mit dem Ringfinger! Dafür bin ich bereit, ihm alles zu Füßen zu legen, mich eingeschlossen. Kein Mann auf der Welt hat diese Bewegung drauf. Außer Papa.

Hingerissen starre ich ihn an. Das ist ihm zuviel. Nach einem scheuen Küsschen entflieht er, ohne ein Wort über ein weiteres Treffen zu verlieren.

„Wir sehen uns bei Carlos!", rufe ich ihm nach.

Ich gieße Wein nach, kuschle auf dem Sofa und höre die Platte zu Ende.

„Das wird schon noch", rede ich mir gut zu, summe mich in den Schlaf.

 

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  Stand: 05.12.2007