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Tante Herta"

Annemarie Nikolaus

- Leseprobe aus: "Unbeirrbar" -

 

 

Herta Sauer saß vor der „Berliner Abendschau“. Aufgebracht stieß sie ihre Stricknadel in die nächste Masche. "Die sollte man alle nach drüben schicken", entfuhr es ihr.

Das Telefon klingelte. „Was nun wieder! Jetzt sind Nachrichten." Das Klingeln verstummte; gleich darauf begann es erneut zu läuten und hörte nicht mehr auf.

Entnervt legte Herta das Strickzeug auf den Couchtisch und schob sich aus ihrem Fernsehsessel hoch. „Ich komme ja schon", brummelte sie, während sie in den Flur ging.

„Sauer!" Ihre Stimme klang wie der Name.

„Guten Abend", meldete sich freundlich eine Unbekannte. „Ich bin Marina Stölz. Sylvia hat mir ihre Nummer gegeben; wir …" Die Fremde zögerte. „Wir können Christian nicht direkt erreichen; er hat doch kein Telefon."

„Ich kann ihm nichts ausrichten", sagte Herta ungehalten. „Ich weiß nicht, wann ich ihn sehe."

„Also, ähm, Sylvia hatte einen kleinen Unfall."

„Was?" Herta starrte einen Augenblick lang den Hörer an. „Was ist passiert? Wo ist Sylvia?"

„Es ist nichts Schlimmes; bloß eine kleine Schramme … vielleicht eine Gehirnerschütterung. Wir sind im Urban-Krankenhaus."

Herta hatte sich wieder gefasst. „Ich komme sofort!"

 ***

 Sylvia grübelte noch immer, als nach der Morgenvisite Christian und Tante Herta wiederkamen.

„Kindchen, wie geht es dir? Was sagen die Ärzte? Hier bring ich dir deine Zahnbürste und dein Waschzeug. Und saubere Kleider. Darfst du schon aufstehen?“

Sylvia wurde ganz verwirrt von Hertas Wortschwall. Noch bevor sie auf irgendeine Frage antworten konnte, flog die Tür auf. Tina stürzte herein. Herta fuhr hoch und starrte das grünhaarige Mädchen entgeistert an.

Auch Christian sprang auf. „Tina! Meine Güte; wo kommst du denn her?“

„Aus'm Knast“, feixte Tina.

Von Herta war ein empörter Ausruf zu hören.

Ungerührt fuhr Tina fort: „Als ich vorhin endlich nach Hause durfte, habe ich erfahren, dass sie deine Schwester auch erwischt haben.“ Sie wandte sich an Sylvia: „Das hätte ich dir gar nicht zugetraut, dass du dich mit den Bullen anlegst.“ Sie pfiff anerkennend.

Tante Herta sank, einer Ohnmacht nahe, auf ihren Stuhl zurück. „Sylvia, was hast du …?“

Sylvia schüttelte den Kopf. „Au!“ Sie griff sich an die Schläfen. „Ich hab mich mit niemandem angelegt. Ich war bloß im Weg.“

„Kind, Kind!“ Herta seufzte. „Was hattest du dort verloren! Auf dem Weg hierher habe ich gesehen, wie diese Chaoten gewütet haben.“ Sie drehte sich zu Tina um. „Überhaupt nicht mehr rauslassen sollte man euch!“

„Sie lassen sich einfach verhauen, ja?“, fauchte Tina und fügte dann versöhnlich hinzu: „Na ja, in Ihrem Alter … das verstehe ich schon. Da bleibt einem wahrscheinlich gar nichts anderes mehr übrig.“

„Du dummes Gör, was fällt dir ein?“ Herta war erneut hochgefahren und stemmte die Arme in die Hüften.

„Na, Sie sehen doch selbst, was passiert. Ihre brave Nichte liegt mit einem Loch im Kopf im Krankenhaus; ich hab bloß eine unbequeme Nacht auf einer Gefängnispritsche verbracht.“

Tina setzte sich auf die Bettkante. „Die Bullen haben Greiftrupps zusammengestellt und jeden gejagt, der nicht in Schlips und Kragen rumlief. Von allen Seiten sind sie mit Wasserwerfern gekommen. Und das bei der Kälte!“ Sie griff nach der Keksdose auf Sylvias Nachttisch und öffnete sie, während sie weitererzählte. „Wir haben versucht, die Wasserwerfer zum Stehen zu bringen, indem wir ihnen die Scheiben eingeschlagen haben. Dabei haben sie mich dann geschnappt.“ Sie knurrte. „Aber das war doch Notwehr, jawohl. Man kann sich ja den Tod holen, wenn man nass wird!“

Christian konnte sich das Lachen nicht länger verbeißen. „Tina, du bist ja eine Marke. Mit Steinen gegen Wasserwerfer, was für ein Unsinn!“

„Na, irgendwas muss man doch machen! Das ist es, was im Leben zählt: Hauptsache, man tut irgendetwas“, erläuterte Tina ihre Philosophie. Sie stöberte in der Keksdose. „Selbstgemacht! Lecker! Darf ich einen? Von wem hast du die?“

Über so viel Unverfrorenheit musste auch Sylvia grinsen. „Nimm dir ruhig. Ich darf morgen ja schon nach Hause. Die sind von Marina.“

„Sie hat dich besucht, obwohl sie dich gar nicht kennt?“ Herta war verblüfft.

Sylvia lächelte. „Nett, gell? Außerdem ist sie wohl sehr aktiv und engagiert.“ Sie wandte sich an Christian. „Marina hat mir noch ein bisschen mehr über eure Pläne erzählt. Wirklich spannend. Sie sagt, ich könnte im Kuratorium mitarbeiten, wenn ich mein Erbe eurer Stiftung vermachen würde.“

Christian hielt den Atem an.

Mit einem Zwinkern fuhr Sylvia fort: „Ich glaube, das würde mir sogar Spaß machen.“

„Aber die Häuser gehören euch doch gar nicht“, wurde sie von Herta unterbrochen. „Ihr könnt die Eigentümer nicht einfach enteignen!“

„Warum eigentlich nicht?“, entgegnete Christian. „Die Besitzer kümmern sich ja nicht darum. Sie lassen die Wohnungen leer stehen und die Häuser verfallen.– Eigentlich, Tantchen, müsstest du stolz auf mich sein. Ich mache das gleiche wie du nach dem Krieg: aus Ruinen anderer Leute bewohnbare Häuser.”

Herta riss verwundert die Augen auf; dann hatte sie ihre Antwort parat. „Das kann man nicht vergleichen. Damals herrschten Krieg und Besatzung; heute haben wir geordnete Verhältnisse - jedenfalls meistens.“

Sylvia beschloss, den ganzen Disput zu ignorieren. „Christian, ich rede mit unseren Eltern. Tina hat Recht: Man muss etwas tun. Ich mache mit!“

 

 

©  2004, Annemarie Nikolaus

 

 

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  Stand: 16.12.2006