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"Venedig"

Annemarie Nikolaus

- Leseprobe aus: "Unbeirrbar" -

 

 

 

 

Mit einem Seufzer der Erleichterung streifte Marina ihre hochhackigen Sandalen von den heißen, angeschwollenen Füßen. Nie hätte sie geglaubt, dass man sich in Venedig lahm laufen kann. Sie setzte sich auf den wurmstichigen Rand des alten Fischerkahns und streckte vorsichtig eine Hand in die gluckernden Wellen des Kanals.

Ein vorbeituckernder Vaporetto brachte das Boot zum Schwanken. Als er hupend zur Haltestelle hinüber kreuzte, erhob sich kreischend ein Schwarm Möwen vom Geländer des Pontons. Schubsend und lachend verließ eine Gruppe rucksackbeladener Jugendlicher das Deck des Linienschiffs.

Sergio hatte inzwischen die Leinen gelöst und steuerte den Kahn auf die gegenüberliegende Seite. Auf dem schmalen Kai vor dem Markt beluden die Händler ihre Boote mit großen Holzkisten. Der Geruch, den der leichte Wind aus der grauen Säulenhalle des Fischmarkts zu ihr hinüber trug, frisch und würzig, nicht fischig wie auf deutschen Hafenmärkten. Das große schmiedeeiserne Tor wurde soeben geschlossen, und zwei grauhaarige Männer in blauen Schürzen fegten die Abfälle zusammen.

Ein Händler nach dem anderen verschwand in der Bar daneben, deren Tische sich bis ans Ufer ausgebreiteten. Die großkarierten Tischdecken waren mit vielen Klemmen befestigt, aber ihre Fransen flatterten in der Brise. Während die Jugendlichen vom Vaporetto sich dort niederließen, stand eine ältere Frau, in ein höchst unpassendes graues Tweed-Kostüm gekleidet, vor ihnen und zählte sie mit erhobenem Finger durch.

Auf der anderen Seite des Kanals reichten die palazzi bis zum Wasser. Die meisten der hölzernen Tore waren an den Unterkanten zerfressen und angefault; vielen fehlten größere Stücke. Überschwemmungen hatten deutlich sichtbare Wasserlinien hinterlassen: unterhalb der Putz vergraut und großflächig von den Fassaden gesprungen. Darüber ließ sich der alte Prunk fröhlicher Farben erahnen.

Prachtvolle Stuckornamente umrahmten die Bogenfenster in den oberen Stockwerken; an einigen Gebäuden hatte man sie aufwändig restauriert, an anderen zerbröselten und verwitterten sie langsam. Die Landungsstege vor den Gebäuden sahen zumeist morsch und wackelig aus; an zweien oder dreien ankerten lecke Boote, halb im Wasser versunken.

Dann glitt der Kahn unter einer niedrigen Brücke hindurch in einen engen Seitenkanal, der als Einbahnstraße ausgeschildert war, kaum breiter als das Boot. Hier standen die Häuser allesamt auf einem fondamento, das einen Meter aus dem Wasser ragte. Die Fassaden waren schmucklos, aber frisch verputzt. Das Venezianische Ockerrot beherrschte die Szene.

Quer über den Kanal spannten sich Wäscheleinen. Neugierig betrachtete Marina die Konstruktion, denn sie hatte sich immer gefragt, wie die Frauen ihre Wäsche aufhängen konnten.

Die Fensterscheiben der obersten Stockwerke reflektierten das Licht, darunter lag alles in tiefem Schatten bis zu einer Stelle, wo sich der fondamento vor der Einmündung in den nächsten Kanal zu einem kleinen gepflasterten Platz öffnete. Ein halbes Dutzend Katzen räkelte sich dort faul in der Sonne.

Marina tat es ihnen gleich und machte es sich auf dem Boden des Kahns so bequem wie möglich. Für einen Moment schloss sie die Augen und genoss die Frühlingswärme auf ihrem Gesicht.

Der nächste Kanal war wieder breiter, aber manche Brücken so niedrig, dass Sergio nicht mehr im Stehen steuern konnte. Überrascht sah Marina, dass hier vor manchen Häusern die Wipfel schlanker, hoher Bäume über die Mauern ragten. Große schmiedeeiserne Tore erlaubten den Blick auf Grasflächen und bunte Blumenrabatten.

In einladender Pracht öffnete sich dann der Canale grande vor ihnen: hohe palazzi mit endlosen Fensterreihen, in hellen Farben restauriert, mit Fahnenstangen über den schweren Eingangstüren. Ihre Landungsstege ragten weit in den Kanal und trugen auf weiß-blauen Säulen elektrische Lampen in kunstvollen Designs. Wo über den Eingängen Hotelnamen prangten, dümpelten weiße Motorboote.

 

Das Wasser der Lagune glitzerte verlockend in der hochstehenden Sonne, als Sergio schließlich an der Giudecca vorbei aufs offene Wasser lenkte. Marina streifte ihr Jäckchen ab und kehrte auf den Platz am Bootsrand zurück. Sie setzte sich seitwärts, streckte einen ihrer nackten Füße aus - und schrak zurück: Eine breite dunkelrote Spur schlängelte sich ihr entgegen. „Was ist das?“

„Abwässer“, entgegnete Sergio lakonisch.

Marina hob den Blick: Vor ihr ragten die rot-weiß geringelten Schornsteine und die Raffinerieanlagen von Porto Marghera in den blauen Himmel.

 

©  2003, Annemarie Nikolaus

 

 

 

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  Stand: 16.12.2006