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"Die Straßenschlacht"

Annemarie Nikolaus

- Leseprobe aus: "Unbeirrbar" -


Als Marina schließlich mit den anderen Ausschussbesuchern die Treppen herunterkam, ertönte eine Polizeisirene.

„Scheiße!“, schrie Tina.

„Was?“, fragte Sylvia verdutzt in den Lärm der nächsten Sirene.

„Die Bullen!“ Tina stürzte nach draußen.

„Ja und?“

Christian lauschte und zählte. „Scheiße!“

„Was ist denn los?“ Sylvia blickte ihn verunsichert an.

„So viele Wannen, da ist irgendwo ein Polizeieinsatz.“

„Nur die Ruhe.“ Marina war vor ihnen stehen geblieben. „Ich rufe erst mal jemanden von der Telefonkette an.“

Als sie aus dem Rathaus traten, waren die Einsatzfahrzeuge verschwunden, die vor der Sitzung am U-Bahnhof geparkt hatten. Der Verkehr in Richtung SO 36 staute sich; dort fuhr eine endlose Kette Mannschaftswagen.

Die meisten der Ausschussbesucher blieben zusammen mit Christian und Sylvia auf den Stufen stehen. Mit verbissenen Gesichtern und geballten Fäusten starrten sie hinüber.

Marina flitzte zur nächsten Telefonzelle. Als sie zurückkam, rief sie von weitem: „Fraenkelufer! Sie fahren zum Fraenkelufer.“ Atemlos blieb sie vor den Wartenden stehen. „Die Polizei hat eine Besetzung am Fraenkelufer verhindert und jetzt scheinen sie in das daneben stehende Haus eindringen zu wollen.“

„Nichts wie hin!“ Die Menge kam in Bewegung.

„Komm!“ Christian packte Sylvia am Arm. „Wir müssen helfen.“

Sie liefen zum U-Bahnhof und zwängten sich in die einfahrende Bahn. Als sie an der nächsten Station umstiegen, trafen sie wieder auf Marina.

„Christian, erklär mir bitte, was los ist“, bat Sylvia, als sie am Bahnsteig standen.

„Na, Genaues weiß ich doch auch nicht; die Bullen sind unterwegs, um in Kreuzberg Zoff zu machen.“>

„Am Fraenkelufer sollte ein weiteres Haus besetzt werden“, schaltete sich Marina ein. „Offensichtlich hat die Polizei davon Wind bekommen und das verhindert. Im Nachbarhaus haben ein paar Leute die Nerven verloren und geglaubt, bei der Gelegenheit würden sie auch geräumt. Jetzt ist dort der Bär los.“

„Und was können wir da machen?“ Sylvia fühlte sich überrollt.

„Nicht viel“, brummte Christian. „Aber je mehr wir sind, um so besser.“ Beim Einsteigen wandte er sich an Marina: „Das ist übrigens meine große Schwester Sylvia.“

„Hallo Sylvia, da bist du wohl genau zum richtigen Zeitpunkt gekommen.“ Marina lächelte ihr aufmunternd zu.

Sylvia blieb keine Zeit zu überlegen, wie sie das verstehen sollte. „Aussteigen“, kommandierte Christian schon wieder. Sie waren am Kottbusser Tor angelangt.

Vom Bahnsteig aus sahen sie, dass der Platz und die Seitenstraßen mit Einsatzfahrzeugen zugeparkt waren. Polizisten in Kampfmontur blockierten die mehrere Straßen.

„Über den Kottbusser Damm“, sagte Marina. „Den können sie nicht sperren.“

Christian nahm Sylvia an der Hand und sie liefen los.

Am Landwehrkanal zog er sie nach rechts zum Ufer, aber sie kamen nicht weit. Wieder eine Polizeikette. Zurück zur Kohlfurther Straße. Alles frei bis zur Kita. Aber dahinter die Nacht erhellt von Blaulicht.

Unvermittelt ließ Christian Sylvias Hand los und sprintete davon. Sylvia blieb konsterniert stehen.>

„Willst du hier bleiben?“, fragte Marina.

Nach kurzem Zögern schüttelte Sylvia den Kopf. Nicht nur die Neugierde hatte sie gepackt; sie war aufgeregt und spürte ein Gefühl steigender Spannung.

Langsam ging sie mit Marina weiter. Als sie an der nächsten Ecke angelangt waren, kam ihnen vom Ufer eine dichtgedrängte Menge entgegen. Die jungen Leute hatten Ketten gebildet, sich untergehakt und liefen langsam rückwärts. Ihnen folgte eine Hundertschaft Einsatzpolizei mit erhobenen Schilden. Dahinter fuhr ein Wasserwerfer. „Machen Sie die Straße frei! Gehen Sie auseinander!“, tönte es aus einem Megaphon.

Plötzlich flog ein Stein den Polizisten entgegen. Sofort rannten diese, die Knüppel zum Schlag erhoben, auf die Demonstranten los.

„Ruhig Leute“, hörte Sylvia noch jemanden rufen. Doch die Ketten lösten sich auf, die ersten begannen zu fliehen; die Polizisten setzten nach und schlugen auf einzelne Demonstranten ein.

„Bleib stehen!“, schrie Marina und drückte sich an die Hauswand, aber Sylvia wurde mitgerissen. Sie stolperte, hielt sich am Nächstbesten fest, wurde weitergeschoben, stolperte erneut, versuchte aus der Menge auszuscheren.

Im nächsten Augenblick waren zwei Polizisten neben ihr, ließen die Knüppel auf sie niedersausen, bevor sie weiterstürmten. Sylvia schrie auf, riss die Hände vors Gesicht. Sie wurde gestoßen, taumelte und sackte mit einem Klagelaut gegen eine Straßenlaterne. Mit einer Hand klammerte sie sich am Pfosten fest, mit der anderen hielt sie sich den Kopf. Zwischen ihren Fingern spürte sie etwas Feuchtes, Warmes. Gleich darauf stand Marina neben ihr. „Du blutest ja!“

Sylvia ächzte.

Marina legte einen Arm um sie und half ihr, sich an der Bordsteinkante niederzusetzen. Im nächsten Augenblick drehte sich Sylvia würgend zur Seite und begann sich zu erbrechen.

„Scheiße“, sagte Marina bestürzt. „Ich bring dich ins Krankenhaus.“



© 2003, Annemarie Nikolaus







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  Stand: 16.12.2006