Als
Antwort zog sie die Schultern hoch.
Beschämt
über seine Gedankenlosigkeit stand Erid auf und lief ein paar Schritte im
Halbkreis, als müsse er das Lager sichern. Es gab keine harmlosen Fragen
mehr in dieser Zeit.
Die
Wölfin folgte mit der Bewegung ihres Kopfes seinen Schritten, blieb aber
liegen. Aus den Augenwinkeln sah er, dass Miriam sich tief herab beugte
und etwas zu ihr zu sagen schien, während sie mit einer Hand im Fell
spielte. Wieder eine Frau, die seine Hope besser verstand als er selber.
Er
ging zurück, war noch ein paar Äste in die Flammen und wickelte sich in
seine Decken. Miriam saß bewegungslos auf der anderen Seite des Feuers
und er wagte nicht, ihr die Wärme seiner Nähe anzubieten. Bevor er
einschlief, schien ihm, er könne die Melodie der letzten Tage deutlicher
hören: Es war mehr ein Summen; kein Instrument, an das er sich erinnerte,
konnte diese Töne hervorbringen.
Er
erwachte irgendwann in der Finsternis. Miriam kniete laut stöhnend im
Schnee und krümmte sich vor Schmerz.
„Verdammt!“
Erid sprang auf.
Heftig
atmend hielt sie ihm eine Hand hin und er half ihr auf die Füße.
„Gehen
wir; das Licht zeigt uns den Weg.“
Aber
um ihren Lagerplatz herum war es stockfinster. Erid musste sie los lassen,
um die Glut neu zu entfachen. Er packte ihre Habseligkeiten zusammen und
schnallte Hope einen Teil des restlichen Holzes auf den Rücken.
Dann
zündete er einen langen Ast an, damit sie wenigstens ein Stück des Weges
sahen, wohin sie traten.
Miriam
zu stützen, während er in der anderen Hand die Fackel hielt, erwies sich
als schwieriger, als er sich vorgestellt hatte. Fast war er froh, als er
den Ast bald heruntergebrannt war und er ihn wegwerfen musste.
Immer
wieder trat einer von ihnen fehl; immer wieder mussten sie minutenlang
anhalten, wenn der Schmerz Miriam überwältigte. Und als schließlich der
erste graue Schimmer den Morgen ankündigte, schien es Erid, als seien sie
Stunden gelaufen und doch dem Licht nicht näher gekommen.
Wieder
trat Miriam fehl. Es gab ein seltsames Geräusch, als sie umknickte und
sie schrie auf.
„Ich
kann nicht mehr laufen!“ Sie keuchte vor Schmerzen.
Erid
nahm sie auf die Arme, aber nun sah er nicht mehr, wohin er seine Füße
setzte. Er orientierte sich an der Spur der Wölfin, aber Hope sank nicht
so tief ein wie er und konnte springen.
Nach wenigen Schritten stolperte über irgend etwas, das im Schnee
verborgen lag und sie stürzten beide. Hope stupste Miriam an, dann
umkreiste sie sie winselnd und jaulend.
Erid
blickte hinüber, wo sich der gelbliche Schein der ersten Sonnenstrahlen
mit dem Leuchten des geheimen Komplexes vermischte. Tränen froren an
seinen Wimpern fest. „Das schaffen wir nie!“
Miriam
ächzte. „Geh allein. Hol Hilfe!“
Er
richtete sich auf. „Du hast gesagt, sie ließen mich an deiner Seite
ein.“
„Sag
ihnen ...“ Sie schloss die Augen und biss die Zähne aufeinander.
Eine
Bö wirbelte den Schnee auf und überzog sie mit einer feinen Schicht.
Automatisch wischte Erid sich über die Kleider-
„Sag
ihnen, Jaguttis' Tochter ist hier draußen.“
„Ich
kann dich nicht allein lassen!“
„Nett,
dass du mit mir zusammen sterben willst.“ Unfassbar, sie konnte noch
spotten.
Miriam
stemmte sich hoch. „Dann lass deine Wölfin bei mir.“
Ratlos
sah er zwischen Miriam und dem Licht hin und her und versuchte abzuschätzen,
wie weit es war. Dabei wusste er nur zu gut, dass die Weite verschneiter
Ebenen immer täuschte.
Schließlich
schnallte er sich seinen Sack mit den Fellen vom Rücken und baute daraus
mitsamt Miriams eigener Decken ein Lager, das sie warm halten konnte. Dann
schichtete er das Holz und wieder war es Miriam, die es zum Brennen
brachte. Er schmolz Schnee in Samiras Kessel und kochte Tee.
Dann
stand er da und sah zu, wie sie trank.
Sie
lächelte ihn durch den Dampf an, der aus ihrem Becher stieg. „Beeil
dich.“
Tränenblind
lief er los. Die Wölfe folgten ihm; Hope laut bellend, die Welpen
winselnd und jaulend. Erid blieb stehen, steckte die Welpen in seine Jacke
und rannte zurück.
Am
Feuer packte er Hope und drückte sie an Miriams Seite in den Schnee.
„Du musst hier bleiben.“
Hope
winselte, aber sie legte gehorsam ihren Kopf auf die Decken. Erid setzte
die Welpen ab, sah noch einmal in Miriams lächelndes Gesicht und machte
sich wieder auf den Weg.
Die
Sonne schien von einem wolkenlosen Himmel und wärmte ihm bald den Rücken,
als kündige sie schon den Frühling an. Erid dankte allen Göttern, die
ihm einfielen, dass Miriam wenigstens von den Launen des Wetters verschont
blieb. Gegen Mittag begann die oberste Schneeschicht anzutauen und wurde
so brüchig, dass er trotz der Schneeschuhe immer wieder tief einsank.
Links und rechts seines Weges rückten die Berge immer näher. Er lief
langsamer und lauschte auf die Geräusche, die von ihnen kamen, musterte
die Hänge, auf der Suche nach Hinweisen, die ihn rechtzeitig vor einer
Lawine warnen würden.
Stunden
später stand er endlich am Ende des Tals; eine Klamm, wenige Schritte
breit. Wenn es einen Pfad gab, der weiter führte, so war er unter dem
Schnee verborgen. Vor ihm, vielleicht hundert Meter tiefer, erstreckte
sich ein Kessel, in dem Artefakte menschlicher Bautätigkeit aus dem
Schnee ragten. Ein sonores Summen erfüllte den Kessel und der Schnee an
den Hängen war in ein rötliches Licht getaucht.
Erid
nahm die Arme über den Kopf und ließ sich denn seitlich fallen. Seine Hände
fingen die meisten Stöße ab, während er den Hang hinunter rollte.
Trotzdem schlug er am Ende mit dem Kopf irgendwo gegen und blieb benommen
liegen.
Der
Boden unter ihm vibrierte. Was auch immer diese Anlage war, sie war in
Betrieb. Aber dass niemand von seiner Ankunft Notiz nahm, was bedeutete
das?
Erid
stand auf und klopfte sich den Schnee ab, während er sich umsah. Weiße
Mauern in unterschiedlicher Höhe, glatte undurchdringliche Flächen. Es wäre
nur logisch, dass man diese Gebäude aus der Luft erreichte und es deshalb
nur in den Dächern Eingänge gab. Trotzdem machte er sich auf den Weg,
den Komplex zu umrunden. Es gab nichts, was er sonst tun konnte. Er fragte
sich, ob Miriam noch lebte, aber dann verscheuchte er den Gedanken an sie;
er führte zu nichts.
Die
Berge warfen bereits ihre langen Schatten in die Tiefe des Kessels, als er
wieder auf seine eigene Spur traf.
Es
war sinnlos! Er hockte sich in den Schnee und barg den Kopf in den Armen.
Wenn dies das Ziel seiner langen Reise gewesen war, so hatte sie ihn in
den Tod geführt. Erid legte sich hin und rollte sich zusammen. Nun, da er
alles verloren hatte, war er bereit, sich zu ergeben.
Von
oben kam ein sirrendes Geräusch; Erid fuhr hoch. Was dort in der Dämmerung
plötzlich vom Dach ragte, erinnerte ihn an einen Kran. Er schlug sich die
Hände vors Gesicht; da brach sich Licht zwischen seinen Fingern hindurch.
Blinzelnd sah er auf. Zwei Scheinwerfer waren auf ihn gerichtet und
blendeten ihn.
Eine
Frauenstimme drang zu ihm. „Wer bist du?“ Sie
wurde durch den Lautsprecher verzerrt und doch klang sie wie Irins Stimme.
„Erid“,
stammelte er. Dann fiel ihm ein, dass sie ihn nur hören konnten, wenn er
schrie. „Jaguttis'’ Tochter ist dort draußen und braucht Hilfe.“
Zuerst
passierte nichts. Er rief seine Worte noch einmal, in dem Glauben, sie hätten
ihn nicht gehört. Plötzlich tauchten drei Hubschrauber mit grellen
Suchscheinwerfern über dem Gebäudekomplex auf. Er winkte und zeigte in
die Richtung, aus der er gekommen war.
Dann
ließ er sich einfach fallen und weinte, blind und taub für das, was um
ihn herum geschah. Sie würden Miriam finden und sie retten.
ENDE
©
Annemarie Nikolaus