24. Dezember 2006

 

 

 

 

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Als Antwort zog sie die Schultern hoch. 

Beschämt über seine Gedankenlosigkeit stand Erid auf und lief ein paar Schritte im Halbkreis, als müsse er das Lager sichern. Es gab keine harmlosen Fragen mehr in dieser Zeit. 

Die Wölfin folgte mit der Bewegung ihres Kopfes seinen Schritten, blieb aber liegen. Aus den Augenwinkeln sah er, dass Miriam sich tief herab beugte und etwas zu ihr zu sagen schien, während sie mit einer Hand im Fell spielte. Wieder eine Frau, die seine Hope besser verstand als er selber.

Er ging zurück, war noch ein paar Äste in die Flammen und wickelte sich in seine Decken. Miriam saß bewegungslos auf der anderen Seite des Feuers und er wagte nicht, ihr die Wärme seiner Nähe anzubieten. Bevor er einschlief, schien ihm, er könne die Melodie der letzten Tage deutlicher hören: Es war mehr ein Summen; kein Instrument, an das er sich erinnerte, konnte diese Töne hervorbringen.

Er erwachte irgendwann in der Finsternis. Miriam kniete laut stöhnend im Schnee und krümmte sich vor Schmerz.

„Verdammt!“ Erid sprang auf.

Heftig atmend hielt sie ihm eine Hand hin und er half ihr auf die Füße.

„Gehen wir; das Licht zeigt uns den Weg.“

Aber um ihren Lagerplatz herum war es stockfinster. Erid musste sie los lassen, um die Glut neu zu entfachen. Er packte ihre Habseligkeiten zusammen und schnallte Hope einen Teil des restlichen Holzes auf den Rücken.

Dann zündete er einen langen Ast an, damit sie wenigstens ein Stück des Weges sahen, wohin sie traten.

Miriam zu stützen, während er in der anderen Hand die Fackel hielt, erwies sich als schwieriger, als er sich vorgestellt hatte. Fast war er froh, als er den Ast bald heruntergebrannt war und er ihn wegwerfen musste.

Immer wieder trat einer von ihnen fehl; immer wieder mussten sie minutenlang anhalten, wenn der Schmerz Miriam überwältigte. Und als schließlich der erste graue Schimmer den Morgen ankündigte, schien es Erid, als seien sie Stunden gelaufen und doch dem Licht nicht näher gekommen.

Wieder trat Miriam fehl. Es gab ein seltsames Geräusch, als sie umknickte und sie schrie auf.

„Ich kann nicht mehr laufen!“ Sie keuchte vor Schmerzen.

Erid nahm sie auf die Arme, aber nun sah er nicht mehr, wohin er seine Füße setzte. Er orientierte sich an der Spur der Wölfin, aber Hope sank nicht so tief ein wie er und konnte springen.  Nach wenigen Schritten stolperte über irgend etwas, das im Schnee verborgen lag und sie stürzten beide. Hope stupste Miriam an, dann umkreiste sie sie winselnd und jaulend.

Erid blickte hinüber, wo sich der gelbliche Schein der ersten Sonnenstrahlen mit dem Leuchten des geheimen Komplexes vermischte. Tränen froren an seinen Wimpern fest. „Das schaffen wir nie!“

Miriam ächzte. „Geh allein. Hol Hilfe!“

Er richtete sich auf. „Du hast gesagt, sie ließen mich an deiner Seite ein.“

„Sag ihnen ...“ Sie schloss die Augen und biss die Zähne aufeinander.

Eine Bö wirbelte den Schnee auf und überzog sie mit einer feinen Schicht. Automatisch wischte Erid sich über die Kleider-

„Sag ihnen, Jaguttis' Tochter ist hier draußen.“

„Ich kann dich nicht allein lassen!“

„Nett, dass du mit mir zusammen sterben willst.“ Unfassbar, sie konnte noch spotten.

Miriam stemmte sich hoch. „Dann lass deine Wölfin bei mir.“

Ratlos sah er zwischen Miriam und dem Licht hin und her und versuchte abzuschätzen, wie weit es war. Dabei wusste er nur zu gut, dass die Weite verschneiter Ebenen immer täuschte.

Schließlich schnallte er sich seinen Sack mit den Fellen vom Rücken und baute daraus mitsamt Miriams eigener Decken ein Lager, das sie warm halten konnte. Dann schichtete er das Holz und wieder war es Miriam, die es zum Brennen brachte. Er schmolz Schnee in Samiras Kessel und kochte Tee.

Dann stand er da und sah zu, wie sie trank.

Sie lächelte ihn durch den Dampf an, der aus ihrem Becher stieg. „Beeil dich.“

Tränenblind lief er los. Die Wölfe folgten ihm; Hope laut bellend, die Welpen winselnd und jaulend. Erid blieb stehen, steckte die Welpen in seine Jacke und rannte zurück.

Am Feuer packte er Hope und drückte sie an Miriams Seite in den Schnee. „Du musst hier bleiben.“

Hope winselte, aber sie legte gehorsam ihren Kopf auf die Decken. Erid setzte die Welpen ab, sah noch einmal in Miriams lächelndes Gesicht und machte sich wieder auf den Weg.

 

Die Sonne schien von einem wolkenlosen Himmel und wärmte ihm bald den Rücken, als kündige sie schon den Frühling an. Erid dankte allen Göttern, die ihm einfielen, dass Miriam wenigstens von den Launen des Wetters verschont blieb. Gegen Mittag begann die oberste Schneeschicht anzutauen und wurde so brüchig, dass er trotz der Schneeschuhe immer wieder tief einsank. Links und rechts seines Weges rückten die Berge immer näher. Er lief langsamer und lauschte auf die Geräusche, die von ihnen kamen, musterte die Hänge, auf der Suche nach Hinweisen, die ihn rechtzeitig vor einer Lawine warnen würden.

Stunden später stand er endlich am Ende des Tals; eine Klamm, wenige Schritte breit. Wenn es einen Pfad gab, der weiter führte, so war er unter dem Schnee verborgen. Vor ihm, vielleicht hundert Meter tiefer, erstreckte sich ein Kessel, in dem Artefakte menschlicher Bautätigkeit aus dem Schnee ragten. Ein sonores Summen erfüllte den Kessel und der Schnee an den Hängen war in ein rötliches Licht getaucht.

Erid nahm die Arme über den Kopf und ließ sich denn seitlich fallen. Seine Hände fingen die meisten Stöße ab, während er den Hang hinunter rollte. Trotzdem schlug er am Ende mit dem Kopf irgendwo gegen und blieb benommen liegen.

Der Boden unter ihm vibrierte. Was auch immer diese Anlage war, sie war in Betrieb. Aber dass niemand von seiner Ankunft Notiz nahm, was bedeutete das?

Erid stand auf und klopfte sich den Schnee ab, während er sich umsah. Weiße Mauern in unterschiedlicher Höhe, glatte undurchdringliche Flächen. Es wäre nur logisch, dass man diese Gebäude aus der Luft erreichte und es deshalb nur in den Dächern Eingänge gab. Trotzdem machte er sich auf den Weg, den Komplex zu umrunden. Es gab nichts, was er sonst tun konnte. Er fragte sich, ob Miriam noch lebte, aber dann verscheuchte er den Gedanken an sie; er führte zu nichts.

Die Berge warfen bereits ihre langen Schatten in die Tiefe des Kessels, als er wieder auf seine eigene Spur traf.

Es war sinnlos! Er hockte sich in den Schnee und barg den Kopf in den Armen. Wenn dies das Ziel seiner langen Reise gewesen war, so hatte sie ihn in den Tod geführt. Erid legte sich hin und rollte sich zusammen. Nun, da er alles verloren hatte, war er bereit, sich zu ergeben.

 

Von oben kam ein sirrendes Geräusch; Erid fuhr hoch. Was dort in der Dämmerung plötzlich vom Dach ragte, erinnerte ihn an einen Kran. Er schlug sich die Hände vors Gesicht; da brach sich Licht zwischen seinen Fingern hindurch. Blinzelnd sah er auf. Zwei Scheinwerfer waren auf ihn gerichtet und blendeten ihn.

Eine Frauenstimme drang zu ihm. „Wer bist du?“ Sie wurde durch den Lautsprecher verzerrt und doch klang sie wie Irins Stimme.

„Erid“, stammelte er. Dann fiel ihm ein, dass sie ihn nur hören konnten, wenn er schrie. „Jaguttis'’ Tochter ist dort draußen und braucht Hilfe.“

Zuerst passierte nichts. Er rief seine Worte noch einmal, in dem Glauben, sie hätten ihn nicht gehört. Plötzlich tauchten drei Hubschrauber mit grellen Suchscheinwerfern über dem Gebäudekomplex auf. Er winkte und zeigte in die Richtung, aus der er gekommen war.

Dann ließ er sich einfach fallen und weinte, blind und taub für das, was um ihn herum geschah. Sie würden Miriam finden und sie retten.

ENDE

© Annemarie Nikolaus

 

 
 

 Copyright © 2005
  Stand: 24.12.2006